J.M. Coetzee - Leben und Zeit des Michael K.

Der Name des Helden, bzw der eine Buchstabe seines Nachnamens ruft sofort die Assoziation zu jenem anderen K. hervor, dessen "Prozess"  ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist.

Josef K., verhaftet an seinem dreißigsten Geburtstag, erfährt nie, warum er angeklagt wurde, er kämpft gegen unsichtbare Mächte bis er spürt, dass seine Zeit abgelaufen ist. Einen Tag vor seinem einunddreißigsten Geburtstag wird er erstochen.

 

Michael K. kommt mit einem Makel zu Welt: er hat eine Hasenscharte. Und es zeigt sich, dass er etwas langsam ist im Kopf. Um ihn zu schützen, und weil seine Mutter, die tagaus, tagein, die Böden weißer Herrschaften schrubbt, keine Zeit für ihn hat, kommt Michael in das "Huis Norenius" in Sea Point, einem Teilort Kapstadts.

Hier wird am Essen mehr gespart als an Schlägen, doch die Kinder haben keinen Anwalt.

Nach der Schulzeit findet Michael eine Anstellung als Gärtner beim städtischen Gartenbauamt. Er ist zufrieden.

 

Die politischen Unruhen, die nach dem Massaker von Soweto 1976 eskalieren und bis weit in die 1980er Jahre hinein zu bürgerkriegsartigen Zuständen führen, bilden in diesem

1983 erschienenen Roman den Hintergrund.

 

Behörden, Soldaten und Söldner, Deserteure und Wachmänner, Ärzte und Offiziere,  politische Verstrickungen und Undurchsichtigkeiten korrespondieren mit den Mächten, die in Kafkas "Prozess" wirken: sie sind nicht greifbar, aber sie bestimmen das ganze Leben.

Und das sogenannte Leben ist keines mehr, es ist ein Vergehen der Zeit, die nicht selbstbestimmt sein kann.

 

Im einunddreißigsten Jahr seines Lebens erhält Michael eine Botschaft: seine Mutter liegt im Krankenhaus, er soll kommen und sie abholen.

Er macht sich auf den Weg und ab da ändert sich sein Leben komplett: er wird zum Pfleger seiner Mutter. Damit findet er endlich eine Lösung für die Frage, die er sich seit langem stellt, nämlich warum er auf der Welt ist.

"Er war auf die Welt gebracht worden, um sich um seine Mutter zu kümmern."

 

Die Mutter, die an Wassersucht leidet und sich kaum noch bewegen kann, träumt davon, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren. Aufs Land, auf die Farm, auf der sie glücklich war, in den Bezirk Prince Albert.

Dafür muss eine Ausreisegenehmigung erteilt werden.

Als die nach langer Zeit noch nicht da ist, machen sich die beiden ohne dieses Papier auf den Weg, Michael die Mutter in einem selbstgebauten Karren hinter sich herziehend.

Sie kommen bis Stellenbosch, im dortigen Krankenhaus stirbt die Mutter. Sie wird sofort verbrannt, Michael bekommt ein graues Paket ausgehändigt, das enthält die Asche der Mutter. Er möchte sie auf die Farm bei Prince Albert bringen und dort begraben.

 

Mit der Abreise aus Kapstadt begann die Odyssee Michaels, nun, als er auf sich alleine gestellt ist, fällt er aus jeglichem menschlichen Zusammenhang heraus.

 

Er schlägt sich durch bis zur Farm der Visagies und versteckt sich dort. Er legt ein kleines Feld an, möchte Gemüse anbauen. Er wird vertrieben. Er versteckt sich in Wald, wird aufgegriffen, kommt in ein Lager für Arbeitslose. Er flieht, geht zurück zur Farm, lebt in einer Höhle, kommt nur nachts raus, um seine neu gepflanzten Kürbisse zu pflegen.

"Jetzt bin ich wirklich so weit gekommen, wie ein Mensch nur kommen kann; bestimmt wird niemand so wahnsinnig sein, diese Ebenen zu überqueren, diese Berge zu ersteigen, diese Felsen zu durchsuchen, um mich zu finden; bestimmt bin ich jetzt der einzige auf der ganzen Welt, der weiß, wo ich bin; ich kann mich für verloren halten."

Er hätte glücklich sein können, dort in der Einsamkeit.

 

Aber er wird wieder aufgegriffen und interniert.

Diese Lager, die keine Gefängnisse sind, aber Zäune haben, sind eine Art Erziehungslager. Unliebsame Personen werden dort zusammengepfercht, sie lernen arbeiten,  singen, graben, gehorchen.

 

Als Michael dort eingeliefert wird, wiegt er noch 4o Kilo, er ist ein klappriges Skelett, das aber standhaft jede Nahrung verweigert.

 

Diesem Aufenthalt ist das zweite Kapitel des Romans gewidmet, erzählt aus der Perspektive eines Arztes.

Er möchte Michael helfen. Er möchte, dass dieser Nahrung zu sich nimmt, dass er wieder als Gärtner arbeiten kann, dass er wieder ein Leben beginnen kann.

 

Die Arbeit als Gärtner, das Säen, Pflegen, Ernten, Planen, Vorrat anlegen, ist die Metapher für eine Zugehörigkeit zur Zivilisation. Doch diese ist zerstört, es herrscht eine Art der Machtausübung, die mit Korruption nicht zu beschreiben ist. Michael ist in diese Mühle ohne Schuld geraten, er weiß, dass seine Zeit vorbei ist, er lehnt es ab, das zu essen, was ihm angeboten wird. 

"Vielleicht isst er nur das Brot der Freiheit", vermutet der Arzt im Lager, in dem die Arbeitsbataillone gebildet werden.

 

Er wird verdächtigt, Aufständische unterstützt zu haben, man will ihn zwingen, auszusagen. Doch er schweigt.

Hat man ihn verwechselt? Plötzlich wird er als Michaels angesprochen. Wie durch ein Wunder gelingt ihm die Flucht. Ein Mann von 35 Kilo kommt durch jeden Zaun, wie ein Insekt krabbelt er durch, schwebt davon.

 

Er schafft den Weg zurück nach Sea Point, findet die Wohnung, in der die Mutter lebte. Fremde kümmern sich um ihn.

"Ich bin ein Gegenstand der Nächstenliebe geworden, dachte er. Überall, wo ich hinkomme, warten die Leute darauf, ihre Formen der Nächstenliebe an mir auszuüben. All diese Jahre, und noch immer habe ich das Aussehen eines Waisenkindes. Sie behandeln mich wie die Kinder von Jakkalsdrif, die sie bereit waren zu ernähren, weil sie noch zu jung waren, um schuldig zu sein. Von den Kindern haben sie nur ein gestammeltes Danke erwartet. Von mir wollen sie mehr, weil ich länger auf der Welt bin. Sie wollen, dass ich mein Herz öffne und ihnen die Geschichte von einem in Käfigen verbrachten Leben erzähle. Sie wollen alles über die Käfige hören, in denen ich gelebt habe, als wäre ich ein Wellensittich oder eine weiße Maus oder ein Affe."

 

Sein Leben ist ihm aus den Händen genommen worden.

Die Zeit, die durchs Land zog, war nicht seine Zeit.

 

"Ich bin ein Gärtner", das ist seine Wahrheit.

Und obwohl die Mutter ihn mit einunddreißig Jahren von der Stadt aufs Land brachte, begann damit sein Ende als Gärtner. Es war ihm verwehrt, seinen Garten zu bestellen.

Statt dessen sollte er seine Geschichte erzählen. 

Um was zu kultivieren?

 

Coetzees Roman ist von großer Eindringlichkeit.  

Die Kraft der Geschichte entspringt ihrer Universalität.

Und sie endet nicht mit dem Tod des Helden.

Dieser phantasiert, dass ein Löffelchen voll Wasser, selbst mit Hilfe einer Schnur aus einem Schacht heraufbefördert, ausreichen kann, um zu leben.

 

Der komplette Rückzug Michael Ks. in sein Innenleben wird nicht von einer Erzählstimme berichtet, sondern vom Autor sprachlich gestaltet: die Gedankenwelt Michaels wird immer komplexer, in dem Maß, in dem seine Möglichkeiten im Leben abnehmen. Eine Überlegung, wie die oben zitierte zum Thema "Gegenstand der Nächstenliebe" hat Michael am Anfang seiner Wanderung nicht angestellt.

Damit verstärkt Coetzee die Brutalität der Auswegslosigkeit, denn auch vermehrte Wachsamkeit führen Michael nicht aus dem Prozess heraus, in den er geraten ist.

Sein menschliches Drama bleibt, ihm gehören weder sein Leben noch seine Zeit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

J.M. Coetzee: Leben und Zeit des Michael K.

Übersetzt von Wulf Teichmann

Hanser Verlag 1986

Taschenbuch im Fischer Verlag 1997, 224 Seiten

(Originalausgabe 1983)