Peter Waterhouse - Die Auswandernden

Dieses Buch beeindruckt (wie alle Veröffentlichungen aus dem starfruit Verlag) schon durch seine Erscheinung. Die Texte von Peter Waterhouse wurden durch Zeichnungen von

Nanne Meyer in Szene gesetzt, man könnte auch sagen vertieft, bereichert, veranschaulicht, transformiert, transponiert oder dramatisiert.

 

Die Zeichnungen umfassen jeweils sieben Doppelseiten und greifen Gedanken auf, die in der vorausgehenden Textpassage geäußert wurden. Meyer nimmt einige wenige Worte, schreibt sie auf ein Stückchen Papier, das sie in das Bild klebt. Die Worte werden dadurch nicht ganz Teil des Bildes, sie stehen immer herausgehoben und ein wenig verloren zwischen Gestalten und Gegenständen, auf Flächen oder Linien, in der Stadt oder auf dem Flughafengelände,

auf einer Landkarte oder in den Himmel geschrieben.

Man muss sich einlassen auf die Bilder, die ich nicht Illustrationen nennen möchte, sie erzählen die Geschichte noch einmal auf andere Weise.

 

Die Geschichte lässt sich kurz zusammenfassen.

Eine junge Frau namens Media verlässt gemeinsam mit ihrer achtjährigen Tochter Miranducht ein Land, das in der Kaukasusregion liegt und fliegt nach Wien.

Dort beantragt sie Asyl.

Der Autor begleitet sie bei ihren Bemühungen, Fuß zu fassen, beleuchtet dabei die gängige Asylpraxis Österreichs und begleitet sie vor allem bei ihren Versuchen, Deutsch zu lernen.

Das klingt eher unspektakulär und dass es eine solche Aktualität hat, ist dem Zufall geschuldet, da der Autor schon Jahre vor der großen Flüchtlingswelle begann, dieses Buch

zu schreiben.

 

Es ist definitiv kein Roman, es ist keine Erzählung, kein Erfahrungsbericht, keine Dokumentation.

Am ehesten ist es ein langes Gedicht, oder, diese Spur legt Waterhouse selbst, es ist ein Traktat. Auf der vorletzten Seite seines Buches zitier er die Sätze, die eine Zeit lang die "schönsten Sätze der Welt" für ihn waren:

 

"Darstellung als Umweg - das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetzten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik."

 

Man kann getrost den negativen Beiklang, den das Wort "Traktat" hat, beiseite lassen und sich der Definition, die Waterhouse gibt, anschließen.

Sein Traktat ist ein unglaubliche feinfühlige Auseinander-setzung mit Sprache - und damit mit dem Innersten des Menschen.

Er macht das an der Art deutlich, wie Media (weibliche Form von Medium=zwischen, in der Mitte agierend) die Worte benutzt. In ihrem Bemühen, alles richtig zu verstehen, macht sie Ableitungen, die es nicht gibt, die aber ein Wort in einer

Weise funkeln lassen, die ganz neue Sichtweisen ermöglichen. Oder sie verbindet Worte miteinander, die nicht aus dem selben Stamm kommen, die aber in tiefe Überlegungen führen, wenn man sie eben doch zueinander in Beziehung setzt.

 

Als Paten stehen Waterhouse Adalbert Stifter, Charles Dickens und Johann Wolfgang von Goethe bei. Er zitiert nicht nur Passagen ihrer Werke, er liest sie neu, indem

er ganz genau die einzelnen Worte hinterfragt, bzw sie von Media hinterfragen lässt.

Sie, die Lernende, lehrt den Könner, wie viel reichhaltiger

die Sprache sein kann, wenn die Betrachtung die alten

Wege verlässt. 

Media, die mit Kinderbüchern und Gedichten aufgewachsen ist, die ihr Wörterbuch wie einen Schatz immer bei sich hat, macht aus den Wörtern Gedichte. Sie prägt sich Bilder ein, Geschichten, Märchen. Für sie sind Worte mehr als Handwerkszeug.

 

Wie doppelt hart ist da die Behördensprache.

Media wurde am Flugplatz aufgegriffen. Begreift jemand, warum ein Mensch, der mit dem Flugzeug, für das er ein Ticket besaß, an der Grenze aufgegriffen wird?

Eintreten in das neue Land ist schwierig, "Betreten verboten" ist geläufiger als das Eintreten für jemanden, für etwas.

 

"Das in vielen Ländern und Sprachen bekannte Wort Asyl, welches der Reisende am Ende der Flucht zu dem Polizeibeamten sagt, oft ohne eine weitere Erklärung, weil die Reisenden nicht Deutsch sprechen, steht auch im Gerichtsprotokoll und doch wird der Augenblick der Ankunft und der kurze Gruß und das Anschauen, die kleine Überraschung vielleicht und dann das Ansuchen und die Bitte um Asyl in den Gerichtsprotokollen und anderen amtlichen Protokollen nicht beschrieben als Ankunft und Gruß und Bitte, auch nicht als Ende der unsicheren Reise, endliches Ende der Flucht, Beginn der Zeit und Beginn des neuen Lebens, sondern immerzu als Aufgreifen. Das Wort willkommen habe er in keinem der vielen Protokolle gelesen, jedes 40 und mehr Seiten lang."

 

Wie Dickens in seinem "Tale of Two Cities" fragt sich Waterhouse, ob es eine "Welt beiseite gibt?"

Diese sucht er, versucht er in Worte zu fassen, wie auch Goethe dies in seinen "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter" versucht. Auf diese kommt Waterhouse immer wieder zu sprechen, vielleicht als Erinnerung daran, dass es auch Situationen gab, in denen Menschen aus Deutschland ausgewandert sind. Vielleicht auch, weil Goethes Personen schon ausgewandert sind, Waterhouse aber den Prozess des Überganges in etwas Neues erkunden möchte - zu den Ausgewanderten gesellen sich die Auswandernden.

 

"War es möglich, einem Menschen nachzudenken, ohne etwas zu wissen? Im Nachdenken zu immer weniger Wissen zu finden? Nachdenken, um anzufangen? Nachdenken, um anzudenken? War die Literatur keine schreibende Kunst, sondern eine Kunst der Auswanderung?"

 

Um Flucht/Flüchtlinge und Sprache kreisen die Gedanken des Schriftstellers, dessen Buch zu lesen ein Abenteuer ist.

Manchmal sind die Übergänge fließend, von Medias Gedanken zu Goethes "Märchen" ist es nicht weit, die Rede des Autors im Asylgerichtshof ist eine Erweiterung davon, ein mysteriöser Todesfall, der mit der Zahl 4 zusammen-hängt, ist ein Einschub, der es ihm erlaubt, über den Tod (auch als eine Variante der Geburt) nachzudenken. 

So, wie durch Worte Grenzen und Schwellen verlaufen, ziehen sie sich auch durch das Leben, der Tod ist eine davon.

 

 

Ich kann nur wiederholen: das Buch ist ein Abenteuer, es führt in unbekanntes Gelände. Es verlangt Zeit und am besten liest man es gleich ein zweites Mal - dann wird es zum Ausgangspunkt eigener Wanderungen, Kreise und Mäander. Nebst den Inhalten (Waterhouse macht seine Meinung zum Thema Asylpolitik sehr deutlich) macht dieser Traktat klar, wie unverzichtbar Wortkunstwerke, auch Gedichte genannt, sind. Heute noch, gerade heute.

 

 

 

 

 

 

Peter Waterhouse: Die Auswandernden

starfruit-publications, 2016, 256 Seiten

davon 58 Seiten Zeichnungen in Farbe von Nanne Meyer