Dino Buzzati - Aus Richtung der unsichtbaren Urwälder

"Erzählen? So einfach wie möglich, so dramatisch oder poetisch wie möglich" - so Buzzati. Anzufügen wäre vielleicht:

so absurd wie möglich.

Buzzati (1906-1972): studierter Jurist, Kriegsberichterstatter, Journalist bei der Tageszeitung Corriere della Sera, Verfasser eines zeitgeschichtlich hochinteressanten Werkes über den

Giro d Ítalia, Maler und Bühnenbildner, ein Förderer der short story und Italienischer Klassiker, darüber hinaus Zeitgenosse und Freund von Albert Camus.

Ein Autor, den man in Deutschland kaum kennt, aber unbedingt kennen lernen sollte.

 

Das Büchlein mit 11 Geschichten ist prall gefüllt mit dem Unvermögen des Bürgertums. 

 

So handelt gleich die erste Geschichte von den Schwierigkeiten zweier Männer, die Toilette eines Hotels aufzusuchen. Diese liegt in der Mitte des Flures, die Herren haben ihre Zimmer an den gegenüberliegenden Enden. Beide strömen auf die erlösende Türe zu, aber keiner will zugeben, dass er da hinein will bzw muss. Also vorbeigeschlichen, gewartet, ein neuer Versuch gestartet. Dummerweise gleichzeitig mit dem anderen - wieder nichts. Das geht so in Varianten die ganze Nacht. Als der Ich-Erzähler am anderen Morgen in einer Nische aufwacht, sieht er, dass in allen anderen Nischen ebenfalls übernächtigte, erschöpfte Hotelgäste liegen, die aussehen, als "hätten sie während der Nacht eine Schlacht geschlagen."

 

In der zweiten Erzählung wird ein Mann aus seinem eigenen Leben verdrängt. Er wird das Opfer eines Fremden, der vorgibt, ein Freund aus alten Kindertagen zu sein. Dieser falsche Freund kommt anfangs zum Essen, arbeitet dann in der Bibliothek, übernachtet, zuerst auf dem Sofa, später im Bett des Mannes, am Ende tritt er in seine Firma ein.

"Ja, so ist das. Egidio ist seit gestern mein Kompagnon, aufgrund eines regelrechten Notariatsakts. Zu gleichen Teilen. Und ihn hat das nicht einen Pfennig gekostet. Er ist nach wie vor schüchtern, rücksichtsvoll, mild, demütig. Wenn wir allein sind, gleiten seine schleimigen Blicke wieder und wieder von meinen Augen zur Narbe an seiner Hand, von der Narbe zu meinen Augen. Und er lächelt mir sanft zu wie einer, der es gelernt hat, zu verzeihen."

Die Narbe hat der Erzähler ihm zugefügt, in einem Moment von Aufbegehren gegen die Übernahme seines Lebens. 

Der Versuch scheiterte, er wirft ihn sogar in eine scheinbare Schuld dem Dieb gegenüber.

 

In der titelgebenden Geschichte "Der kranke Tyrann" verliert der mächtige Bluthund Tronk seine Macht. Als erster merkt es der Spitz, der noch vor wenigen Tagen Angst vor Tronk verspürt hatte.

"Vielleicht lag es nur in der Art und Weise, wie er die Pfoten setzte, oder in dem leicht getrübten Blick, der Stumpfheit des Felles; oder waren es die grauen Schatten, die sich von den Augen bis zum Rand des Maules zogen?"

Tronk spürt, dass sich das Benehmen des Spitz ihm gegenüber grundlegend geändert hat - und ist doch völlig überrascht, dass der ihn plötzlich ins Bein beißt. Einfach so, einfach, weil er das jetzt kann.

Es kommt zu einem Kampf, an dem noch zwei Hunde teilnehmen. Ebenso unvermittelt wie er begann, endet er.

Die Hunde lassen von Tronk ab, als sie sehen, "dass sie keinen Grund mehr hatten, ihn zu fürchten." 

Tronk weiß, dass er geschlagen und entthront ist, und schaut "dorthin, wo fern aus der Richtung der unsichtbaren Urwälder die Rhinozerosse der Nacht traurig auf ihn zustapfen."

 

In Buzzatis Geschichten sind immer Drama und Poesie,

Abgründe des Absurden tun sich auf, mitten im Alltag und aus dem Gewöhnlichen heraus. 

Menschen, die die Selbstbestimmung über ihr Handeln verlieren (und nicht einmal mehr die Toilette aufsuchen können), Männer, die ihr gesamtes Leben abgeben und damit noch eine schwere moralischen Schuld auf sich laden, Könige, die sich im Dschungel von Machtgeflechten nicht mehr behaupten können - Buzzatis Storys sind voller Scheitern. Dabei hat er durchaus Mitgefühl für seine "Helden", er stellt sie nicht bloß und der Spott gilt nicht einer einzelnen Person.

 

Es sind eher die Zeiten und Lebensumstände, die zu all den ungeheuren Begebenheiten führen.

Menschen, die sich vor anderen in den Staub werfen, Internate, in denen Menschen zerbrochen werden und sie zu gefügigen Mitgliedern der Gesellschaft machen, Kinder, die so tyrannisch sind, dass Großväter, die Kriege überstanden haben die Segel streichen, Menschen, die aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, weil man ihnen Krankheiten andichtet, die sie nicht haben, Menschen, denen man vorenthält, was andere selbstverständlich bekommen:

egal, von welcher Seite man es betrachtet, es geht nie mit rechten Dingen zu. Weil das einfach so ist?

Ja und Nein, vielleicht auch, weil ein grundlegender Mut fehlt, ohne den das Leben nicht funktioniert.

 

Das wird besonders deutlich in der relativ langen Erzählung "Angst in der Scala", in der ein verschrecktes Bürgertum seine Angst vor dem Kommunismus auf die Spitze treibt und sich nicht mit Ruhm bekleckert.

 

Am Anfang sind die Geschichten immer sehr ruhig, dann kommt es zu einem Defekt (Panne, Stromausfall, Gerücht etc.), und dieser setzt eine Maschinerie des Scheiterns in Gang. Der Einzelne steht am Ende als Einzelner da, er hat den Blick für die anderen und manchmal sogar den für sich selbst verloren.  

 

Und der Leser hat ein großes Vergnügen an dieser Art der Satire, die ohne Selbsterhebung oder Verächtlichmachung anderer auskommt.

Es ist eine sehr poetische Variante der Satire, eine Augenzwinkernde und Nicht-Zeigefingererhebende. 

Und eine, die mit jeder erneuten Lektüre noch besser wird.

 

Zum Schluss noch eine kleine Leseprobe, in der es um den Dirigenten des "Bethlehemitischen Kindermordes", jener denkwürdigen Aufführung in der Scala geht:

 

"Cottes war nie ein schöner Mann gewesen, jetzt aber, mit

67 Jahren, wirkte er wie ein schöner Greis von der Sorte, die man als dekorativ bezeichnet. Mit dem Alter hatte sich eine gewisse Ähnlichkeit mit Beethoven herausgebildet, der er, unbewusst vielleicht, dadurch huldigte, dass er seine luftig und genial dahinwehende Löwenmähne mit besonderer Sorgfalt pflegte. So sah er wie ein untragischer, jovial lächelnder Beethoven aus, bereit, das Gute herauszufinden, zu loben und anzuerkennen, wo immer er konnte, denn in seinem engsten Fach blieb er kritisch. Die Pianisten, über die er nicht die Nase rümpfte, konnten sich gratulieren. Das war seine einzige Schwäche, die man ihm gerne nachsah. ...

Die Leitung der Scala betrachtete es als Ehrenpflicht, ihn besonders gut zu behandeln. Während der Hauptsaison, in der von Pianisten keine Rede ist, bildete der brave Cottes im Parkett an stürmischen Abenden ein freundliches Eiland des Beifalls. Zum Mindesten auf seinen persönlichen, geräuschvollen Applaus konnte gezählt werden. Darüber hinaus war das Beispiel des bewährten Musikers dazu angetan, Nörgler zu mäßigen und Unentschlossene mitzureißen."

Ausgerechnet Cottes Sohn Arduino ist ein politisch windiges Blatt, aber das soll hier nicht weiter erörtert werden...

 

 

 

 

 

 

 

 

Dino Buzzati: Aus Richtung der unsichtbaren Urwälder

Übersetzt von diversen Übersetzern,

zusammengestellt von Klaus Wagenbach

Wagenbach Verlag, 2011, 144 Seiten

(Originalausgaben der Erzählungen 1942-1958)