T.C. Boyle - América

Er legte das Brot auf den Teller, ohne abgebissen zu haben. "Hier geht es nicht um Coyoten, mach dir doch nichts vor. Es geht um Mexikaner, es geht um Schwarze.

Es geht um Ausgrenzung, Rassentrennung und Hass. Jack sind die Coyoten doch vollkommen egal." 



Der Journalist Delaney Mossbacher hat sich zusammen mit seiner Frau Kyra ein schönes Haus in einer ruhigen Siedlung nicht weit von Los Angeles gekauft. Sie ist Immobilien-maklerin, ständig unterwegs und ständig unter Strom.

Er schreibt Kolumnen für ein Naturmagazin, er ist der "Pilger am Topanga Creek." Ein liberaler, humanistisch ausgerichteter Umweltschützer, der am liebsten durch menschenleere Gegenden streift, um dann am Computer seine Texte zu verfassen, die informativ und stimmungsvoll sind. Er genießt es, direkten Zugang zur Natur zu haben, ihr stets nah zu sein.

 

Dann wird eines Tages der kleine Hund im Garten von einem Coyoten gerissen. Sofort lässt Mossbacher einen höheren Zaun installieren, doch wenig später muss die Familie mit ansehen, wie ein Coyote auch diesen überwindet und den zweiten Hund holt.

Ein Trauma vor allem für Kyra und den kleinen Sohn Jordan.

 

Und ein guter Vorwand für die, die sowieso eine Mauer anstelle eines Zaunes haben wollen. Sie würde das Tor und den Wachmann ergänzen und endlich Schutz bieten.

 

Es ist klar, dass sich die Bewohner nicht nur Schutz vor wilden Tieren wünschen, viel mehr soll ein Wall gegen all die illegal im Land lebenden Einwanderer errichtet werden. 

Die Einfassung der Siedlung Arroyo Blanco steht stellvertretend für die Abschottung der USA nach Mexiko hin, die Mauer soll die erste Welt vor der dritten schützen.

 

Der Roman zeichnet den Weg nach, den ein liberaler Mensch zurücklegt, vom Anhänger des Gedankens einer freien Welt, von Menschenrechten für alle Menschen, egal ob reich oder arm hin zu einem Mann, der von blindwütigem Hass beherrscht wird.

 

Die sprichwörtliche Kollision mit der Armut ist ein Unfall, mit diesem beginnt der Roman: auf einer Schnellstraße fährt Mossbacher einen Mexikaner an. Dieser ist ernsthaft verletzt (Kieferbruch, Hüftverletzung, Prellungen), konnte mit einem Sprung gerade noch sein Leben retten. Mossbacher steigt aus, sieht, was passiert ist und gibt dem Mann eine Zwanzig-Dollar-Note.

Zwanzig Dollar für einen Menschen, der nicht zum Arzt gehen kann, der die nächsten Wochen nicht mehr arbeiten können wird, der vielleicht den Rest seines Lebens behindert sein wird.

 

Kurz hat Mossbacher ein schlechtes Gewissen, das beruhigt sich aber rasch. Ein zu Schaden gekommenes Tier löst weit größere Wellen des Entsetzens aus. Das immer wieder vor seinem geistigen Auge auftauchende Gesicht Cándidos versucht er zu verdrängen.

 

Cándido, der verletzte Mexikaner, schleppt sich zu seinem Lager tief unten in der Schlucht. Dort erwartet ihn seine schwangere Freundin, die siebzehnjährige América.

Sie hat mit ihm ihre Eltern verlassen, folgte seinem Versprechen auf ein besseres Leben, auf ein Haus mit Badezimmer, auf Sicherheit.

Nun hausen sie in einem Lager, es ist nicht einmal Geld für das Nötigste da, América ist noch nicht verzweifelt, aber an ihrer Geduld zehrt die Situation doch sehr.

 

Notgedrungen macht sie sich jetzt auf Arbeitssuche, was Cándido ihr verbieten wollte. Es verletzt seine männliche Ehre, wenn sie Geld verdient und er nicht. Aber was bleibt ihm übrig? 

Ein bisschen Hoffnung kommt auf, als América tatsächlich eine Arbeit findet, die nicht allzu schwer ist. Am ersten Tag. Am zweiten ist sie kaum auszuhalten. Am dritten ist sie wieder ohne Arbeit.

 

So ist der ganze Roman strukturiert: es passiert ein Unglück, doch dann gibt es wieder Hoffnung. Daraufhin ereignet sich etwas, das das Unglück deutlich übertrifft und sich so eine Spirale entwickelt, die in einem Inferno endet.

 

Kapitel über die Mossbachers und ihre Welt wechseln sich ab mit jenen über América und Cándido. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege, ohne dass sie es wissen. 

Dem Leser ist jedoch klar, dass die beiden völlig ver-schiedenen Lebensbereiche einander gegenseitig bedingen - ohne die Armut der einen gibt es nicht den Reichtum der anderen. Und die immer verzweifelter werdenden Versuche Cándidos, doch noch irgendwie einen Zipfel vom Glück zu erwischen, die in immer größere Katastrophen münden, führt zu einer sich steigernden Wut Delaneys. Er hat es nicht in der Hand, die Situation der Einwanderer zu verbessern, aber mit einer Pistole in einen primitiven Unterschlupf zu stürmen, weil dafür ein Stück gestohlenes Plastikdach verwendet wurde, dafür gibt es keine rationale Erklärung.


Boyle zeichnet kein starres Schwarz-Weiß-Bild.

Cándido reagiert seine Wut auf die Welt manchmal mit Schlägen ab, die beiden Unglücklichen werden auch von ihren Landsleuten ausgenommen.

Hinter allem steht die Frage: wie viel kann ein Mensch ertragen? Wie viel Rohheit verbirgt sich hinter der dünnen Maske der Zivilisation?

Boyle verzahnt die Lebensgeschichten seiner Helden so miteinander, dass diese Fragen für alle gelten, sie sind an keine Hautfarbe gebunden.

Der Kampf gegeneinander führt zu einer Verrohung aller Beteiligten.

 

Cándido und América, zwei rechtschaffene Menschen, zufällig im falschen Land geboren, möchten arbeiten, nicht stehlen, keine Reichtümer, nur ein einfaches Leben.

Doch schließlich wühlen sie in Mülltonnen, leben wie die Tiere in einem Stall und essen kleine Nagetiere.

 

Delaney und einige andere bestärken sich gegenseitig in ihrem Denken und Handeln. Falsche Verdächtigungen, Vorverurteilungen, angefüttert durch Angst und eine eigenartige Vorstellung von Umweltschutz verwandeln schließlich ausnahmslos alle in Rassisten. 

 

Ganz am Ende, im letzten Satz, keimt noch einmal Hoffnung auf, aber mit der Hoffnung ist das so eine Sache in diesem Roman...

Und in zwanzig Jahren scheint sich nicht viel gebessert zu haben.

 

 

 

 

 

T.C. Boyle: América

Übersetzt von Werner Richter

Hanser Verlag, 1996

dtv-Taschenbuch, Neuausgabe 2006, 388 Seiten

(Originalausgabe 1995)