Carlos María Domínguez - Das Papierhaus

Dieses Buch über Bücher ist eine Liebeserklärung, eine Philosophie des Lebens und des Lesens, es ist eine Verführung und eine Warnung.

Die beiden Hauptpersonen des Buches sind abwesend: die eine tot, die andere verschwunden. Lebendig ist die Literatur und die Suche nach dem Geheimnis.

 

Bluma Lennon überquert mit einem Gedichtband von Emily Dickinson die Straße. Sie hat das Buch nicht einfach in der Hand, sie liest darin und wird überfahren.

Die fünfundvierzigjährige Literaturdozentin in Cambridge saß noch immer an ihrer Doktorarbeit über Joseph Conrad, sie ist eine Frau mit mehreren Liebhabern, hat viele Träume, die teilweise auf Geschichten der Weltliteratur fußen und ihr Tod löst an der Universität eine heftige Debatte über Kunst und Leben aus. Denn Literatur verändert das Leben, das Schicksal, die Vorlieben und Abneigungen und sie kann -

wie im Fall Blumas - das Leben kosten.


Diese Eingangsszenen des schmalen Büchleins sind so köstlich zu lesen, die sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Auf wenigen Seiten steht schön verdichtet so viel über Bücher, Leser und ansatzweise den Literaturbetrieb, viele Bücherwürmer und Leseratten dürften sich darin wiedererkennen.

 

Blumas Kollege, der die Geschichte in der Ich-Form erzählt, übernimmt vorläufig ihren Unterricht und all das, was zu einem Dozentenjob gehört.

 

"Eines Morgens erhielt ich ein an meine verstorbene Kollegin adressiertes Kuvert. Es war mit uruguayischen Briefmarken versehen. ... Es war tatsächlich ein Buch, ... kaum hatte ich den Umschlag geöffnet, überkam mich eine Ahnung.

Ich ... nahm das zerlesene alte Exemplar noch einmal in Augenschein. Ich kannte die Doktorarbeit über Joseph Conrad, an der Bluma gesessen hatte. Merkwürdig war nur, dass an Buchdeckel und -rücken eine schmuddelige Kruste klebte. Die Blattkanten wiesen kleine Zementpartikel auf und hinterließen eine feine Staubschicht auf dem polierten Holz meines Schreibtischs."

Das Buch (es handelt sich um Joseph Conrads "Die Schattenlinie") enthält eine Widmung Blumas an einen gewissen "Carlos als Andenken an die verrückten Tage in Monterrey." 

 

Die Neugier des Erzählers ist geweckt. Er versucht herauszufinden, wer der Carlos sein könnte, den Bluma bei einem Schriftstellerkongress kennengelernt hat.

Da Ferien sind und er sowieso regelmäßig seine Mutter in Buenos Aires besucht, beschließt er, sich auf die Suche zu machen.

Über Umwege lernt er Herrn Delgado kennen, der wiederum Carlos Brauer kennt.

Delgado ist ein Sammler, der über eine Bibliothek von circa achtzehntausend Bänden verfügt. Sie füllen eine ganze Wohnung aus, Delgado hält aber Buch- und Privatleben streng getrennt: sein Familienleben findet eine Etage höher statt. Er spricht über die verschiedenen Sammlertypen: es gibt die, die auf Erstausgaben, Illustrationen oder seltene Inkunabeln Wert legen, es gibt die Sammler von Gattungen oder Jahrhunderten, Ländern oder Kontinenten und so weiter. Und es gibt die verrückten Leser: ihnen kommt es nur auf den Inhalt an - natürlich scheuen auch sie weder Zeit noch Kosten, um an ein bestimmtes Buch zu kommen.

 

Es kann passierten, dass eine solche Leidenschaft sich verselbständigt und dem Sammler/Leser über den Kopf wächst: die Bücher breiten sich im ganzen Haus aus, nehmen den kompletten Raum ein, fangen an, den Bewohner zu erdrücken. Allein die Schwierigkeit, eine Systematik zu finden, die zufriedenstellend ist...

 

Brauer hat eine Bibliothek, die noch größer ist als die Delgados. Monate verwendet er darauf, eine inhaltliche Systematik zu entwickeln: Bücher verfeindeter Autoren sollen nicht nebeneinander stehen müssen, die "Gefühle" müssen zueinander passen. Er ist fast fertig mit seinem Katalog, da vernichtet ein Feuer die eine Hälfte der Systematik, das Löschwasser die andere.

 

Carlos Brauer - man erfährt das alles von Delgado, denn wo Brauer ist, weiß niemand - ist verzweifelt. Die Bibliothek hat überlebt, aber der Katalog lässt sich nicht mehr rekonstruieren.

 

Er verkauft sein Haus und zieht an die Atlantikküste. Er lässt all seine Bücher dorthin transportieren und engagiert einen Maurer, der keine Fragen stellt: es entsteht das Papierhaus.

Dieses Haus ist aus den zwanzigtausend Büchern erbaut, sie werden vermauert wie Ziegelsteine, der Leser wohnt nun in seiner Bibliothek, im ganz konkreten und praktischen Sinn. Sie geben ihm Raum und Heimat, Dach und Schutz.

 

Eines Tages sucht er ein bestimmtes Buch, mit einem Knüppel schlägt er an diversen Stellen Löcher in die Wände, irgendwann findet er es, er bringt es kurz darauf zur Post...

 

Die Schäden lassen sich nicht beheben, es ist, als wäre Conrads Schattenlinie Dreh-und Angelpunkt oder besser Fixstern des Gebildes gewesen, sein Verschwinden lässt sich nicht wieder gut machen. Und es verschwindet auch Brauer.

 

"Ich habe nicht die Angewohnheit, unter die Stühle zu lugen, und lasse mich gerne von Puppenspielern, plumpen Theatereffekten und einer Satzmelodie hinters Licht führen. Dem Papierhaus an einem fernen Strand des Südens ist es jedoch gelungen, mich für diese Schattenlinie empfänglich zu machen: eine unbekannte Dimension, die Inhalt und Medium des gedruckten Wortes in einem merkwürdigen Spiel vereint."

 

Delgado hatte Brauer nach den Erlebnissen in Monetrrey gefragt, die Antwort Brauers lautete:

"Ich habe eine sehr hübsche englische Dozentin kennengelernt, das war das Beste. Eine von diesen feurigen, von sich überzeugten Akademikerinnen, die für jede Lebenslage ein literarisches Zitat parat haben und sich, wenn ihnen ihr Stündlein schlägt, am liebsten Emily Dickinson lesend überfahren lassen würden."

 

Die Methode, etwas vorwegzunehmen, um dann später darauf zurückzukommen und das Angedeutete auszuführen, wenden Schriftsteller an, die ihre Werke planen, das Leben kann so etwas nicht. Aber die Wechselwirkung lässt sich wiederum nicht leugnen ... Wie auch immer, Domínguez´

Büchlein ist eine wunderschöne Hommage an die Leidenschaft des Lesens, ein Kleinod für all diese Verrückten, die ohne phantasierte und gedruckte Welten nicht leben können oder möchten.

 

 

 

 

 

Carlos María Domínguez: Das Papierhaus

Übersetzt von Elisabeth Müller  

mit Illustrationen von Jörg Hülsmann

Insel Verlag, 2014, 89 Seiten

(Originalausgabe 2002)