Nona Fernandez -

Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Zunächst ein paar Worte zur Autorin, da sie im deutschsprachigen Raum eher unbekannt ist - was sehr schade ist und sich dringend ändern sollte. Nona Fernandez wurde 1971 in Santiago de Chile geboren, sie ist Schauspielerin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Sie gehört nicht nur zu den wichtigsten Autoren Chiles, sondern ganz Südamerikas.

 

Ihr Kollege Roberto Bolano sagte über sie:

"Diese schnörkellosige Maßlosigkeit, dieser Mut!

Jede einzelne Zeile ist entweder lebensnotwendig oder tödlich, immer gespannt bis zum Äußersten."

 

Sie verlangt dem Leser in der Tat einiges ab, denn sie schichtet Erinnerungen, Träume, Dialoge und innere Monologe so dicht ineinander, dass man sehr aufmerksam lesen muss.

Ganze Passagen sind aus der Sicht eines Erzählers geschrieben, der berichtet, was die Personen tun oder denken, dann wieder spricht Rucia aus der Ich-Perspektive.

 

Fernandez arbeitet mit Techniken, die aus Filmen bekannt sind, wie dem plötzlichen Schwenk zu einer anderen Person oder in eine andere Zeit. Sie schreibt sehr plastisch, im Kopf entsteht ein eigener Film mit den Orten und Stimmungen

des Romans.

 

Dieser wirft Fragen der Schichtung, der Geschichte als Historie, der Geschichten, die von Menschen erzählt werden und der Geschichte eines jeden Menschen auf.

 

Die Personen, die diesen Roman beleben sind Rucia und ihr Bruder Indio, die Mutter, der Vater, am Rande die Großmutter und ein Historiker namens Fausto.

Er hat die Geschichte Chiles von seinen Gründungsmythen an aufgeschrieben. Sein Standardwerk ist die offizielle Version der Geschichte. Die Tatsachen, die er weggelassen hat, sind auf gelben Zetteln notiert, gut versteckt in seinem Schreibtisch.

 

Die Orte des Geschehens sind Santiago, die Ufer und Wasser des Mapocho, ein Fußballstadion dort, das Hochhaus, das

an dessen Stelle errichtet wurde, nachdem das Stadion abgebrannt war, das Haus der Kindheit Rucias und Indios, sowie ein Dorf am Mittelmeer.

 

Rucia und Indio waren noch kleine Kinder, als der Vater eines Nachts abgeholt wurde. Danach sahen sie ihn nie wieder.

Die Mutter verließ bereits am nächsten Morgen die Stadt.

Mit dem Schiff fuhren sie nach Europa, ließen sich in einem Dorf nieder. Indio begann zu malen und entwickelte eine zunehmende Obsession für seine Schwester. Nachdem die Mutter die beiden in einer sehr intimen Situation erwischt hatte, warf sie Indio hinaus. Er durfte seine Schwester nicht mehr besuchen, beobachtete sie aber heimlich am Strand.

 

Jahr später wird er Mutter und Schwester mit seinem neuen Auto abholen und mit ihnen an die Stelle fahren, an der sie vor langer Zeit den Vater symbolisch beerdigt hatten.

Indio will die Mutter zwingen, ihnen die Wahrheit zu sagen: er ist fest davon überzeugt, dass der Vater noch lebt.

Dass der Vater im Feuer, das in ihrem Viertel gewütet hatte, ums Leben gekommen war ist ihre Version der Geschichte. Ansonsten schweigt sie. 

Die Mutter bleibt bei ihrer Aussage. Wütend fährt Indio mit den beiden Frauen davon und verursacht einen Unfall,

bei dem die Mutter stirbt. Die Geschwister werden beide schwer verletzt.

In einer sehr erotischen Szene trösten sie sich gegenseitig, lecken ihre Wunden und vereinigen sich zum ersten Mal. Danach gehen sie auseinander.

 

Wenig später kommt ein Anruf von Indio. Er ist nach Chile zurückgegangen, Rucia solle nachkommen.

Das macht sie. Mit der Asche ihrer Mutter in einer Urne taucht sie in ihrem alten Viertel auf, sucht das Haus, versucht sich zu erinnern.

Und hier setzt die Geschichte ein: Rucia in einem Sarg den Mapocho hinuntertreibend, nachdem sie die Asche ins Wasser gestreut hat. Sie denkt an ihr Leben und Sterben,

an Indio und daran, wie unauflöslich sie aneinandergekettet sind. Sie ist tot, sagt aber es sei nicht wahr, dass die Toten nichts fühlen. Sie kann auch sehen, nämlich sich selbst oben auf der Brücke, mit all den Wunden, die der Unfall verursacht hatte. Kurz darauf trifft sie Fausto, den Geschichtsschreiber.

 

Er steht auf dem Dach des Hochhauses und will sich hinunterstürzen. Er hat die Nachricht erhalten, dass seine beiden Kinder bei einem Unfall im fernen Europa ums Leben gekommen sind. Rucia beobachtet die Szene von ihrem Fenster aus, sie sieht, wie ein Mann - Indio? - den alten Fausto zurück hält. Sie selbst lernt Fausto auf dem Friedhof kennen. Sie wollte ihn trösten, doch er fängt sie auf, als sie fast zusammenbricht. Sie begleitet ihn nach Hause, sieht die vielen Bücher, erzählt ihm von ihrem Vater. 

 

Sehr lange wird sie nicht begreifen, wer Fausto ist.

"Fausto ist mein Vater. Jetzt weiß ich das. Jetzt, da ich die Dinge aus einer anderen Perspektive sehe. Von unten. Aus dieser Kiste. Dort oben auf der Brücke habe ich nicht die leiseste Ahnung davon, was da gerade vor sich geht. Ich ahne nicht einmal, dass der Moment, den ich erlebe, ein ganz besonderer ist. Ich stehe nur da, vor einem traurigen Mann, dem ich aus irgendeinem Grund helfen möchte."

 

In seiner Bibliothek erzählt er ihr, dass er verpflichtet worden war, die Geschichte des Landes zu schreiben.

Wie er nie ein Ende finden konnte, weil Geschichte immer weiter geht. 

Eines Tages schickte er seine persönliche Version der Geschichte mit den Vorfällen, die nicht in den Büchern stehen sollten, an Indio. 

"Solange seine unveröffentlichten Notizen existierten,

würde der Teil des Mannes, der er einmal gewesen war,

in ihnen weiterleben."

 

Indio wird nicht weiterleben können in seinen Bildern.

Das ganze Haus hatte er mit Szenen aus der Geschichte ausgemalt, mit einer indigenen Armee in einem Zimmer, einer Gruppe arbeitender Menschen mit Fußfesseln in einem anderen, mit Leichen im Fluss, mit Porträts von Rucia an allen Wänden ihres alten Zimmers. Rucia in enger Umarmung mit Fausto, Fausto auf dem Brückengeländer - 

"Alle Verbrannten des Viertels haben auf diesen Wänden ihren Platz gefunden."

All diese traumatischen Bilder werden zusammen mit dem Haus zerbrechen, keiner wird die Mosaikstücke wieder zusammensetzen können.

 

Im letzten Abschnitt des Buches spricht Indio. Auf knapp sieben Seiten klagt er sich an, eine Memme, ein Feigling zu sein. "Ich kam nur für ein gutes Gemälde hierher, Rucia.

Ein klares Bild wollte ich mir machen, wollte meine eigene Vergangenheit entdecken. Wie jemand, der eine große Geschichte erzählt, so wollte ich ein großes Gemälde malen, klar, wirklich, echt, damit ich es mir ansehen und alles verstehen könnte. Ich konnte einfach nicht mehr, es gab so viele Geheimnisse, so viel Schweigen. Die Alte und dieser Drang, nichts zu erzählen oder Lügengeschichten zu erfinden, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. ...

Aber jetzt ist das Einzige, was ich will, die Kurve zu kratzen. ... Ich war bei den Toten... Es ist nicht wahr, dass die Toten nichts fühlen...."

Auch der Nimbus, der den Vater umgab ist weg:

"Es gibt keine Magie mehr. Seine lügnerische Zunge nützt ihm nichts mehr."

 

Was ist Lüge, was Wahrheit? Wessen Wahrheit?

Wissen die Nachgeborenen mehr? Weil sie Abstand haben?

Sie waren nicht dabei, sie setzen die Steinchen anders zusammen.

 

Fernandez beeindruckender Roman lebt von der Radikalität ihrer Protagonisten. Sie wurden mit den Wurzeln ausgerissen aus dem Leben ihrer Kindheit und trauen seitdem den Menschen nicht mehr. Glaube und Religion kommen nicht vor, sie sind kein Hafen, in den man flüchten könnte. Einzig die Großmutter: sie betet Tag und Nacht, umgeben von ihren vielen Katzen zur Jungfrau gewandt. Diese steht so, dass sie ihr die Rückseite zeigt, die liebe alte Frau betet also jahraus, jahrein einen Hintern an.

 

Wenn es die Wahrheit gibt, wo findet man sie?

In Büchern, in Bildern, in der Erinnerung, im Traum?

 

Fernandez gibt keine Antworten auf diese Fragen.

Das erwartet auch niemand. Sie hat einen Roman geschrieben, der äußerst interessant strukturiert ist, 

der klingt und nachhallt, der ganz weit ausholt und ganz im Innersten weiterschwingt. Ihr von vielen Toten und Lebensmüden bevölkertes Buch ist sehr lebendig.

 

 

Eine Spur, die hier nicht verfolgt wurde, die aber unbedingt bedacht werden sollte, ist die politische: Rucia ist die weibliche Form von Rucio, das ist der Esel des Sancho Pansa, ein urspanisches Wesen also. Steht Indio für die indigenen Völker Lateinamerikas, könnte die inzestuöse Geschwisterliebe, die ein zerstörerisches Potential hat,

auf die kaum aufzulösende Bindung hinweisen, die - in der vorliegenden Geschichte - Indio verstümmelt hat.

 

 

 

 

 

Nona Fernandez: Die Toten im trüben Wasser des Mapocho

Übersetzt von Anna Gentz

Septime Verlag, 2012, 256 Seiten

(Originalausgabe 2003)