Romain Gary - Europäische Erziehung

"Dobranski sprach nicht, er sang. Er sang, und die ganz Kraft und Schönheit aller unsterblichen menschlichen Gesänge klangen in seiner beseelten Rede mit. `Es wird nie mehr Krieg geben, Amerikaner und Russen werden sich brüderlich vereinen und gemein-sam alle Anstrengungen aufbieten, um eine neue, glücklichere Welt zu schaffen, eine Welt, in der kein Platz mehr ist für Furcht und Angst. Europa wird frei sein und vereint; auf uns wartet eine geistige Wiedergeburt, die konstruktiv sein wird und fruchtbarer als alles, was sich der Mensch in seinen hellsten Stunden nur erträumen kann...´".

 

Diesen Traum träumt nicht nur der Student Dobranski, Mitglied einer Partisanengruppe, die in der Nähe von Vilnius gegen die Deutschen kämpft. 

Auch Janek, ein vierzehnjähriger Junge, der sich nach dem Verschwinden seines Vaters ebenfalls den Partisanen angeschlossen hat, hofft auf ein baldiges Ende des Krieges und ein Leben in Freiheit und ohne Hunger. Die Schlacht um Stalingrad ist noch nicht entschieden, niemand ahnt, dass die Kämpfe noch sehr lange dauern werden.

 

Janek, im Mittelpunkt des Romans stehend, erlebt mit den Männern Hunger, Kälte und Verzweiflung. In rasender Geschwindigkeit wird er erwachsen, vom einfachen Boten-gänger entwickelt er sich schnell zu einem Mann, "der wusste, wie man eine patriotische Mission ausführt, einer,

der wie die besten Kämpfer für die Freiheit töten kann."

 

Zwei Lichtblicke gibt es in Janeks Leben: die Musik und die Liebe zu Zosia. Die junge Frau, ein Mädchen in Janeks Alter, beschafft Lebensmittel und Informationen, indem sie sich deutschen Soldaten zur Verfügung stellt. Sie kann diese Situation ertragen, weil sie all ihre Gefühle abtötet, und nicht darüber nachdenkt, was sie tut. Dies gelingt ihr nicht mehr, als sie sich in Janek verliebt. Die Gruppe akzeptiert, dass sie nicht mehr zu den Soldaten gehen will, doch die Liebe der beiden jungen Menschen ist keine, die in Sicherheit gedeihen kann.

 

Um Musik zu hören, begibt sich Janek in Lebensgefahr.

Doch wenn er ein Klavier- oder Geigenstück hört, taucht er völlig ab, schwingt sich auf in Sphären, die die Mühsal dieser Welt nicht kennen.

 

Wie die Liebe symbolisiert die Musik Hoffnung, Harmonie, Lebendigkeit. Das, und darüber hinaus Freiheit in Solidarität, Sicherheit und ein Leben in Würde, sollte eine auf menschlichen Werten basierende Erziehung vermitteln. 

 

Doch vermittelt sie das wirklich? Kann sie das leisten, wovon Dobranski und all die anderen Kämpfer für die Freiheit träumen?

 

"Die Menschen erzählen einander hübsche Geschichten und lassen sich dafür umbringen - sie glauben, dass der Mythos dadurch wahr wird. Freiheit, Würde, Brüderlichkeit, die Ehre, ein Mensch zu sein. Auch wir in diesem Wald lassen uns für ein Ammenmärchen töten", so ein Partisan aus Janeks Gruppe.

Ist die Idee von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nichts als ein Ammenmärchen? 

 

Auch Janek selbst gehen diese Gedanken durch den Kopf, er sagt zu Zosia:

"Diese Europäische Erziehung ... bedeutet nur: Sie erschie-ßen deinen Vater, du selbst tötest jemanden im Namen einer Sache, du verreckst vor Hunger, eine Stadt wird in Schutt und Asche gelegt. Ich sage dir, wir sind durch eine gute Schule gegangen, du und ich, wir haben unsere Erziehung abbekom-men."

 

Was hält die Männer und Frauen am Leben? Was sorgt dafür, dass sie nicht völlig verzweifeln und aufgeben?

Es sind die Geschichten von "menschlicher Courage", aus denen "das Wissen um die Unbesiegbarkeit des Menschen" erwächst. 

Von dieser Unbesiegbarkeit erzählt ein in Garys Roman eingearbeitetes Projekt Dorbranskis, der auch den Mythos des Partisanen Nadejda erschuf:

 

"Um uns Mut zu machen und den Feind zu verwirren, haben wir den Partisan Nadejda erfunden, einen unsterblichen, unbesiegbaren Führer, den keine Feindeshand je fangen würde, von nichts und niemandem aufzuhalten. Er war ein Mythos, den wir uns geschaffen haben, so wie man nachts laut singt, um sich selbst Mut zu machen, doch dann, irgendwann, nahm er Gestalt an, physische Gestalt, und auf einmal war er unter uns. Es war, als würden alle dem Befehl eines Unsterblichen gehorchen, einem Wesen, das von keiner Polizei, keinem Besatzer und keiner physischen Macht jemals erschüttert werden kann."

 

"Nichts Wichtiges stirbt" hat Janeks Vater seinem Sohn mit auf den Weg gegeben, wieder und wieder ruft Janek sich ihn ins Gedächtnis. Wie kann die Menschlichkeit inmitten all der Gewalt überleben? Zumindest die junge Generation gibt Anlass zur Hoffnung, wenn sie von Rache absieht und am Gedanken der brüderlichen Vereinigung festhält.

 

Romain Gary, geboren 1914 in Vilnius, klammert keinen Schrecken aus, den ein Krieg mit sich bringt. Indem der die ganze Härte anhand von Einzelschicksalen, Männern, Frauen, jungen und alten Menschen erzählt, bringt der grandiose Erzähler sie den Leser:innen nahe.

Und doch erzählt er eine Geschichte des Mythos Freiheit.

Ihm hängen alle an, mit ihren so verschiedenen Charakteren, die auf unterschiedlichste Weise versuchen, den Mythos wahr werden zu lassen.

 

Von einer Welt ohne Furcht und Angst sang der Student Dobranski, Romain Garys Roman erzählt eindrücklichst,

wie eine Welt aussieht, in der diese bestimmen.

Und er macht klar, dass es eine Geschichte und einen Glauben braucht, um eine gemeinsame Hoffnung leben zu können.

 

Wie würde er heute die Geschichte Europas erzählen?

 

 

 

 

 

 

Romain Gary: Europäische Erziehung

Aus dem Französischen von Birgit Kirberg

Verlag Klaus Wagenbach, 2025, 224 Seiten

(Originalausgabe 1956)