Klaus Modick - Konzert ohne Dichter

"Das Konzert" oder "Sommerabend"

ist der Titel eines Bildes von Heinrich Vogeler (1872-1942). Es gilt als der Höhepunkt der ersten Schaffens-periode des Jugendstilkünstlers, des führenden Gestalters Deutschlands.

Gemalt wurde es zwischen 1900 und 1905 in Worpswede, einem kleinen Dorf im Teufelsmoor nördlich von Bremen.

 

 

In diesem Dorf hat sich eine Gruppe von Malern angesiedelt, die der Enge der akademischen Malerei entfliehen und eine an der Realität orientierte Freiluftmalerei entwickeln möchte. Das klare Licht, die tiefdunklen Kanäle, die Kähne mit ihren schwarzen Segeln, schlanke und luftige Birken,

die offene Landschaft, der Zauber des Echten und Unverfälschten - in diesem Dorf werden sie fündig. Außerdem ist es billig, dort zu leben.

 

Heinrich Vogeler, ein Bremer Kaufmannssohn, ist der letzte, der sich zu dieser Gruppe gesellt, ein Verein wird gegründet, als die "Familie" schon im Zerfall begriffen ist. Zu stark sind die Differenzen, nicht nur künstlerischer Art, zu eigen ist jeder Einzelne der Künstler.

Später werden sie sich diametral entgegenstehen.

 

Der Roman ist gänzlich aus der Sicht Vogelers erzählt.

Er setzt ein am 7. Juni 1905, Vogelers Gemälde ist gerade fertig, er sieht darin nichts anderes mehr als einen Abgesang an eine Zeit, die unwiederbringlich vorbei ist. Er sieht darin nicht wie alle anderen die Harmonie, er hört kein Konzert klingen, er sieht die Leerstellen, das Gestelzte, das Verlorene. 

Er bewegt sich durch sein von eigener Hand geschaffenes Haus, den berühmten Barkenhoff. Das Haus entwickelte sich aus einer kleinen Kate, die Vogeler erworben hat, um sie komplett umzugestalten. Er hat nicht nur die Pläne für das Haus gemacht, er entwarf die Möbel, die Dekoration, die Gebrauchsgegenstände bis hin zum Besteck, er weiß auch die Werkzeuge zu gebrauchen und zusammen mit den Handwerkern zu arbeiten. Damit hat er sich bei der Dorfbevölkerung großen Respekt erworben. Er gehört zwar zu den spinnerten Künstlern, aber er kann auch arbeiten.

 

Nun steht er auf der Terrasse, schaut in den Garten und fragt sich, ob das schwarze Gitterwerk der Hecke ein Schutz vor der Außenwelt ist, der Barkenhoff eine Insel der Schönheit, oder ein Gefängnis?

"Sperrt es die Welt aus? Oder sperrt es ihn ein in sein eigenes Werk, in Haus und Hof mit Frau und Kindern und Pferden und Hund und den vielen Gästen, die kommen und gehen?"

 

Seine Frau Martha ist nicht mehr das elfengleiche Mädchen, sie ist Mutter zweier Kinder, breit geworden, sie ist sein Geschöpf und ist es doch nicht. Er hat sie besungen, gezeichnet, sich selbst als ihr Ritter dargestellt, im Gemälde "Das Konzert" nimmt sie die exponierte Stellung in der Mitte ein. Sie steht auf der Treppe mit den geschwungenen Balustraden zu beiden Seiten, ihr zu Füßen liegt malerisch ein weißer Hund. Martha schaut in die Ferne, glücklich wirkt sie nicht, eher desillusioniert.

 

Dieses mit einer Goldmedaille ausgezeichnete Bild wurde von Ludwig Roselius gekauft, "vom Halm", wie dieser sagt. Und damit klar stellt, was das Bild für ihn ist: eine Ware.

Gönnerhaft kommt Roselius ein- bis zweimal im Jahr nach Worpswede, nimmt Vogeler als Kunstsachverständigen mit auf seine Einkaufstour durch die Ateliers und kauft, was ihm gewinnbringend zu sein verspricht. Der Kolonialwaren-händler und Generalkonsul bestimmt den Preis. Er ist kein Unmensch, freundlicherweise (und nicht ohne ein paar anzügliche Bemerkungen), gibt er noch ein wenig Kakao für die Damen oder ein paar Zigarren für die Herren zu den paar Mark, die er für die Bilder bezahlt.

Vogeler fühlt sich wie ein Lakai - zunehmend spürt er auch den Druck, den der Erfolg mit sich bringt.

"Je größer Erfolg und Ruhm, desto fremder wird Vogeler sich selbst. Bald wird er zu einem lebenden Fragezeichen geschrumpft sein, und das Fragezeichen wird unter einer Flut floraler Ornamente zusammenbrechen."

 

1903 erscheint erstmals Rainer Maria Rilkes Buch "Worpswede", das wesentlich zum Erfolg der Künstlergruppe beiträgt. Er ist der Dichter, der sich zu den Malern gesellt und einige Zeit in dem Dorf lebt. Er ist ein Exot unter den Exoten, ein Mann, der die Frauen magnetisch anzieht mit seinen "Zaubersprüchen". Er ist erst Anfang Zwanzig, hat aber ein sehr bewegtes Leben hinter sich und ist ein Mensch, der alles seiner Kunst unterordnet, d.h. sich unterordnet.

 

"Mädchen, Dichter sind, die von euch lernen

das zu sagen, was ihr willig seid..."

 

So fängt eines seiner Gedichte an.

"Aber was sollte es bedeuten? Es bedeutete, dass die Dichter das Sagen hatten, die Maler das Zeigen, und den Frauen blieb das Sein. Insbesondere das Da-Sein, das ständige Bereit-Sein für die Dichter und Maler. Rilke brauchte die Frauen. Aber im Grunde liebte er sie nicht. Clara fügte und beugte sich."

 

Clara Westhoff, eine junge Bildhauerin, die wie Paula Becker ebenfalls in Worpswede lebt, wird Rilkes Frau.

Der Dichter schwankte zwischen diesen beiden Frauen, keine von ihnen nahm er als eigenständige Künstlerin wahr, Frauen sind Geliebte und Musen. 

In einer Szene des Romans schildert Modick einen Besuch von Roselius bei dem jungen Ehepaar Rilke. Er interessiert sich für Claras Werk, überlegt, ob er etwas kaufen soll.

Jede, aber wirklich jede Frage, die Roselius Clara stellt, wird von Rilke beantwortet. Er wirft sich in Pose, spricht von sich - um etwas anders kreisen seine Gedanken nicht - und legt dabei auch noch eine unterwürfige Art an den Tag, die ihm den Rest von Sympathie beim Leser raubt.

 

Zwischen Rilke, dem Dichter und Vogeler, dem Maler, kommt es schließlich zu einer so großen Entfremdung, dass Vogeler Rilke aus dem Bild "Das Konzert" entfernt.

So die These Modicks. Es klingt plausibel: In diesem bis auf das kleinste Buchsbaumblatt penibel ausgemalte Bild klafft eine Lücke. Ein Stuhl in der linken Personengruppe ist leer. Ganz links sitzt Paula Becker, daneben ihre Freundin Agnes Wulff, dann kommt der Stuhl, dann Clara Westhoff.

Dahinter steht Otto Modersohn, den Paula später heiraten wird, in der Gruppe rechts ist halb verdeckt Vogeler selbst zu sehen. Warum also ein leere Stuhl in einer ausgewogenen Komposition mit der stehenden Martha in der Mitte und den Figurengruppen auf beiden Seiten?

 

Die Lücke lässt sich durch die Entwicklungen auf dem Barkenhoff, in der Künstlergruppe, und vor allem dem Entsetzen, das manche Handlungen und Äußerungen Rilkes bei Vogeler hervorriefen, erklären.

 

Clara Westhoff brachte keine neun Monate nach der überraschenden Hochzeit mit Rilke Ruth zu Welt. Das Kind wächst bei den Großeltern auf, anders geht es nicht.

Nach einem Weihnachtsbesuch bei Schwiegereltern und Tochter sagt Rilke:

"Ich war nicht bereit für das Kind. Ach, liebe Vogelers, können Sie das denn nicht verstehen? Diese alte Feindschaft zwischen dem Leben und der Arbeit? Ich möchte mich tiefer zurückziehen in das Kloster meiner selbst und dort mein Werk tun. Ich möchte alle vergessen, meine Frau und mein Kind und alle Beziehungen und Gemeinsamkeiten. Was sind die mir Nahestehenden denn anderes als Gäste, die nicht gehen wollen?

Am nächsten Morgen schnitt das Winterlicht frostig und klar ins Atelier. Vogeler löschte Rilke aus dem Bild und ließ Modersohn dichter an Paula herantreten. Der Platz neben Clara blieb leer."

 

Modick stützt sich in seinem Roman auf die zahlreichen schriftlichen Quellen aus der Zeit. Briefe, Tagebücher,

Rilkes Frühwerk und seine Abhandlung über Worpswede sowie Vogelers Lebenserinnerungen bilden die Grundlage, von der aus er seinen Blick auf das Bild und seine Geschichte wirft.  Er findet dabei einen sehr schönen "heutigen" Ton,

der eine mehr als hundert Jahre alte Geschichte erzählt.

Dieser ist oft recht ironisch und verhindert, dass der Leser sich wie einst die Damen vor dem großen Dichter in den Staub wirft.

 

Der Roman beleuchtet über die beiden Hauptpersonen hinaus grundsätzliche Fragen zur Kunst: Wie weit muss das Leben sich ihr unterordnen? Wie weit darf ein Künstler gehen, um Erfolg zu haben, sprich: zu verkaufen?

Wie waren die Arbeitsbedingungen von Künstlerinnen Anfang des 20.Jahrhunderts?

Ein schönes Buch, das auch ein wenig "Heimatroman" ist - Modick kennt die Gegend, er lebt selbst in Oldenburg und wenn er seine Dorfbewohner Platt sprechen lässt, wirkt das keineswegs aufgesetzt.

 

 

 

 

 

 

 

Klaus Modick: Konzert ohne Dichter

Kiepenheuer & Witsch, 2015, 240 Seiten

Kiepenheuer & Witsch-Taschenbücher, 2016, 240 Seiten

 

(Ein Abdruck des Bildes befindet sich sowohl vorn wie auch hinten im Buch)