Marilynne Robinson - Haus ohne Halt

 

 

Dieses Haus steht im Westen der USA, am Fuß der Rocky Mountains.

Erbaut wurde es von Edmund Foster, einem Eisenbahnbediensteten, für seine Frau Sylvia und die drei Töchter Molly, Helen und Sylvie.

Es ist ein Haus, das auf einem kleinen Hügel steht, teilweise unter der Erde liegt, krumm wirkt und organisch, es passt sich in die Landschaft ein, als wäre es etwas Natürliches. Es ist umgeben von einem großen Obstgarten und nicht weit von einem riesigen schwarzen See entfernt. Es gehört zu dem Dorf Fingerbone, das wenig zu bieten hat.

 

So, wie Haus, Dorf und Umgebung von Robinson beschrieben werden, umweht sie nichts Romantisches. Nichts, das eine Sehnsucht, dieses Land zu sehen, aufkommen lässt.

Über allem liegt eine dunkle Atmosphäre, der See überflutet regelmäßig Teile der Stadt, seine Ufer sind in großen Teilen pure Wildnis, er ist ganz und gar schwarz und er verschluckt Menschen.

 

Edward Foster kommt in ihm bei einem Eisenbahnunglück zu Tode, viele Jahre später auch seine Tochter Helen: sie fährt mit ihrem Auto in den See. Selbstmord.

Die jüngere ihrer beiden Töchter, Lucille, möchte diese Tatsache lieber als Unfall sehen.

 

Doch der Reihe nach: nach dem Tod des Vaters schließen sich die sechzehn, fünfzehn und dreizehn Jahre alten Mädchen sehr eng an die Mutter an, sie sind wie ihre Schatten. Immer ruhig und schweigsam. Da keine rebelliert schließt Sylvia daraus, dass alles in Ordnung sei. Bis sie plötzlich alleine zurückbleibt. Die älteste geht mit einer Mission nach China, die beiden jüngeren heiraten und kehren nicht mehr zu ihr nach Hause zurück.

 

Das tut nur Helen, einmal, als sie bei der Mutter ihre Töchter absetzt, bevor sie ihr Auto in den See steuert.

Ruth und Lucille wachsen bei der Großmutter auf, bis diese stirbt. Für kurze Zeit kümmern sich zwei Schwängerinnen Sylvias um die ca. zwölfjährigen Mädchen. Aber diese beiden alten Frauen können mit den Kindern nichts anfangen und so suchen sie nach Sylvie, der jüngsten Tante, per Zeitungsanzeige.

Sie kommt recht schnell und übernimmt den Haushalt.

 

Sylvie ist eine Frau ohne Zeitgefühl, ohne Organisationstalent, ohne Sinn dafür, was sich gehört und was nicht. Sie schreibt Entschuldigungen für geschwänzte Schultage, kauft hübsche Kleinigkeiten aber nicht das praktisch Notwendige oder Angesagte, sie sammelt bergeweise alte Zeitungen und leere Konservendosen.

Das Haus verfällt zunehmend, aber es wäre falsch zu sagen, dass die Mädchen sich nicht wohl fühlten bei ihr. Sie akzeptieren Syvies Eigenheiten, wie das Essen im Dunkeln, weil man sich da besser spürt oder auch, dass  sie nie die Gewohnheiten der Landstreicherin in Kleidern und Schuhen zu schlafen, abgelegt hat.

 

Es ändert sich, als Lucille anfängt, sich mit den Augen der anderen zu sehen. Und anfängt, sich danach zu sehnen, so zu sein wie die anderen Mädchen, mit schönen Kleidern und Freundinnen.

 

Waren bislang Ruth, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, und Lucille unzertrennlich, fängt Lucille an, sich abzuwenden. Bis sie schließlich das Haus und ihre Familie verlässt. Sie zieht zu einer alleinstehenden Lehrerin, die die bürgerliche Ordnung per se darstellt. Nur einmal noch wird sie zurückkehren, für ein paar Stunden.

 

Ihr Auszug war der erste Einschnitt im Roman, ihre kurze Rückkehr, eigentlich nur ein Besuch, markiert den zweiten. 

Sie kommt, um nach Sylvie und Ruthie zu schauen, die sie durchs Dorf wanken sah. Die beiden Frauen hatten eine Nacht auf dem See verbracht, waren illegal mit der Eisenbahn zurückgefahren und sahen aus, als wären sie dem Teufel begegnet. So ähnlich war die Nacht für Ruth auch gewesen: sie blickte in eine andere Welt.

 

Aus freien Stücken geht Ruth danach mit Sylvie zusammen weg, Sylvie nimmt ihr Nomadenleben wieder auf, Ruth bleibt bei ihr. Sie hätte bleiben oder zurückkehren können, das möchte sie nicht.

 

Der Roman ist frei von jeder Anklage. Dargestellt werden unterschiedliche Lebensformen, ein jeder möge die ihm gemäße auswählen.

Lucille entscheidet sich für ein bürgerliches Leben, Ruth wählt das Umherziehen.

Eine gemeinsam im Wald verbrachte Nacht der beiden Mädchen (unfreiwillig, es war einfach zu spät, um nach Hause zu laufen), die anstrengend aber bereichernd war, entpuppt sich als Vorstufe jener Nacht der Geheimnisse,

die Ruth mit ihrer Tante teilt.

 

Zweimal werden Heidelbeeren (huckleberries) gegessen: deutlicher kann ein Hinweis kaum sein. 

Auch Huckleberry Finn hatte die Chance, sich niederzulassen und ein geregeltes Leben zu führen, er entscheidet sich dagegen. Er bleibt am bzw auf dem Fluss und akzeptiert das Unstete.

 

Der Roman ist voller Naturmagie und Wassermetaphorik. So wirkt beispielsweise Tante Sylvie im Haus wie eine

"Nixe in einer Schiffskabine".

Während ihrer Zeit des Haushaltens werden Haus und Garten immer mehr zur Wildnis, die Grenzen zwischen Kultur und Natur verschwimmen.

Angesichts des Sees und der grandiosen Natur mit Kräften, die die menschlichen Möglichkeiten weit übersteigen, erscheint die Suche nach Stabilität und Abgrenzung von vorn herein als fragwürdig.

 

Die Geschichte ist sehr klug komponiert. Immer wieder wird der chronologische Fortgang durch Szenen bestimmt, deren Bedeutung erst später klar wird, bzw. erst rückblickend ersichtlich wird, dass ein harmloses Spiel Vorübung für ein sehr ernstes Ereignis war. So erreicht Robinson eine stete Steigerung, oder, um in der Vorstellungswelt des Wassers zu bleiben, ein Anschwellen des Geschehens.

 

Robinson stellt ihre Heldinnen den männlichen Protagonisten der urbanen Oststaatenliteratur gegenüber. Die Bücher von Roth, Franzen, Auster etc erzählen Leben aus einem anderen Teil des großen Kontinents, sie haben andere Lebensentwürfe und Schwierigkeiten.

Robinsons Buch ist ein leises und unaufdringliches,

in sich gekehrtes, ein zutiefst beeindruckendes Buch.

Und ein deutliches Plädoyer für das Recht auf Außenseitertum, wie auch das Recht, sich einzugliedern.

Ein Plädoyer für die Wahlfreiheit. Und ein Bekenntnis dazu, dass ein Rest an Zweifel immer zurückbleibt.

 

 

Zum Schluss noch eine kleine Leseprobe, um Stimmung und Sprache anzudeuten:

 

"Ich kann keinen Becher Wasser trinken, ohne daran zu denken, dass das Auge des Sees das meines Großvaters ist und dass die schweren, blinden, drückenden Wasser des Sees die Gliedmaßen meiner Mutter ordneten und ihre Kleider beschwerten und ihrem Atmen ein Ende machten und ihrem Sehen ein Ende machten. Es gibt Erinnerung und Verbundenheit - ganz und gar menschlich und profan. Denn Familien lassen sich nicht zerbrechen. Man kann sie verfluchen und verstoßen, ihre Kinder aussetzen, in Fluten ertränken und in Feuern verbrennen, und alte Frauen werden aus all diesem Leid Lieder machen und an lauen Abenden auf der Veranda sitzen und sie singen. Jedes Leid ruft tausend Lieder hervor, und jedes Lied erinnert an tausenderlei Leid, und so ist ihre Zahl unendlich, und sie sind alle gleich."

 

 

 

 

 


Marilynne Robinson: Haus ohne Halt

Übersetzt von Sabine Reinhardt-Jost

edition fünf, 2012, 254 Seiten

(Amerik. Originalausgabe 1980)