Mercé Rodoreda - Der Garten über dem Meer

Mercé Rodoreda gilt als die wichtigste katalanische Schriftstellerin des

20. Jahrhunderts. Sie wurde 1908 in Barcelona geboren, die Zeit des spanischen Bürgerkrieges verbrachte sie in Frankreich und in der Schweiz, 1970 kehrte sie nach Spanien zurück. Im Jahr 1983 verstarb sie in Girona.

Der vorliegende Roman erschien 1967 in Barcelona und in Genf.

 

Geschrieben hat Rodoreda den "Garten über dem Meer"  in Genf, fernab des Meeres also. Einen Garten hatte die Schriftstellerin auch dort, sehr gepflegt und reich an Blumen.

Sie lebte alleine, getrennt von Mann, Sohn und Familie.

Ihr Lebensgefährte war ein verheirateter Mann, der die Hoffnung auf ein gemeinsames Leben nicht erfüllte und von dem Rodoreda ihrer Freundin schrieb: "Obiols wird sich später einmal damit schmücken können, das Leben von Mercé Rodoreda zerstört zu haben."

 

Vielleicht trugen die Umstände seiner Entstehung dazu bei, dass über dem in den zwanziger oder dreißiger Jahren (auf alle Fälle vor der Zeit des Bürgerkrieges) spielenden Roman von Anfang an bei allem Sonnenschein ein Schleier liegt.

Sehr zart und manchmal fast weggeweht, dann wieder deutlich wahrzunehmen - die Melancholie begleitet das junge Paar und seine Freunde von Anfang an.

 

Senyoreta Rosamaria und Senyoret Francesc sind ein frisch verheiratetes Ehepaar, sie haben die Villa mit Garten über dem Meer vor den Toren Barcelonas gekauft, um dort unbeschwerte Sommermonate zu erleben. Sie ziehen ein, bringen ihr Dienstpersonal mit, das durch junge Mädchen aus dem Dorf ergänzt wird. Sie haben ständig Besuch von Freunden, sie feiern Feste, gehen schwimmen, engagieren einen Wasserskilehrer, kaufen ein Boot, später legen sie sich Pferde zu, machen Ausflüge nach Frankreich in ihren schönen Autos, spielen sich gegenseitig Streiche und schlagen gerne mal über die Stränge. 

 

Der Roman erstreckt sich über sechs Jahre, erzählt in sechs Kapiteln und zwar aus der Sicht des Gärtners.

Dieser ist Mitte Fünfzig, Witwer und kinderlos, er kann also seine Aufmerksamkeit voll und ganz auf "seinen" Garten und auf die Herrschaften richten.

Das Besondere an diesem Gärtner ist, dass er das volle Vertrauen aller genießt: es kommen die Dienstmädchen zu ihm, um den neuesten Klatsch zu berichten, der Herr des Hauses, um mit ihm zu plaudern, die neuen Nachbarn (die eine wichtige Rolle in der Geschichte spielen werden), um ihre gesamte Lebensgeschichte zu erzählen, die Eltern von Eugeni, die Schweigsamste ist Rosamaria, sie spricht nicht viel, aber sie versteckt sich auch nicht.

Der Gärtner wird zu der Person, der die Geheimnisse aller kennt, sie hütet, dosiert Informationen weitergibt, manchmal schwindelt, wenn er sieht, dass eine Person die Wahrheit nicht ertragen kann: er vertritt in gewisser Weise die Autorin selbst, sie überträgt ihr Wissen auf ihn und lässt ihn als einzigen Wissenden agieren.

Zugleich vermischt der Gärtner aber seine Beobachtungen mit seinen Erinnerungen und der Leser ist gefordert, hier genau aufzupassen und sich selbst sein Bild zu machen.

 

Doch nun die Geschichte selbst: Rosamaria wächst zusammen mit Eugeni, dem Nachbarsjungen auf. Beide sind Kinder kleiner Leute, aber sie lieben sich auf eine ganz selbstverständliche Art und es scheint klar, dass sie eines Tages heiraten werden. Da erobert Francesc das Herz Rosamarias, sie entscheidet sich für ihn.

Eugeni stürzt in tiefste Verzweiflung. Bevor er seine Heimat verlässt, schwört er Rosamaria am Tag ihrer Hochzeit, dass er sie nach fünf Jahren holen würde, egal, wo sie lebt.

 

Eugeni geht nach Brasilien, verrichtet dort die niedrigsten Arbeiten, ihm gelingt jedoch der Aufstieg durch eine Heirat mit Maribel Bellom. Senyor Bellom ist jener Nachbar, der eine moderne Villa direkt neben Francesc und Rosamarias Haus bauen lässt. Damit werden die beiden Nachbarn.

 

Die Gegenwart Eugenis ist nicht der einzige Grund, aus dem die Ehe Rosamarias kriselt. Die Entscheidung gegen ihr Herz und für den sozialen Status hat ihr kein Glück gebracht.

Der anfängliche Zauber welkt dahin wie die Blumen im Garten. 

 

Im Lauf der Zeit werden die Differenzen zwischen den einzelnen Menschen, die sich in der Sommerfrische zusammenfinden immer offensichtlicher, die Langeweile immer evidenter, die Späße roher.

Eugeni ist der Unglücklichste, er verschwindet eines Tages, man findet ihn schließlich am Strand. 

"Mit zerschlagenem Gesicht, weil die Wellen ihn die ganze Nacht lang gegen die Felsen gespült hatten."

In diesem einen Satz berichtet Rodoreda von Eugenis Tod, der offiziell als Unfall gilt.

 

Ihr Stil ist nicht der des dicken Pinselstriches, sie deutet an, schafft eine Atmosphäre, diskret und mit großer Liebe zu ihren Figuren.

Eugenis und Rosamarias Geschichte schreibt Rodoreda einem Büchlein ein, das ein Dienstmädchen in einer Schublade findet und dem Gärtner bringt- dieser innerste Kern wird nicht einmal von einer Person erzählt, er wird einem Tagebuch anvertraut. Um das Geheimnis zu wahren, verbrennt der Gärtner das Buch.

 

Kurz darauf erscheint Senyor Francesc im Gärterhäuschen und verkündet, dass er beschlossen habe, das Haus zu verkaufen. Damit ist der langsame Niedergang besiegelt.

Mit dem Verlassen des Hauses und des Gartens geht eine Welt der Bohème zu Ende, sie endet bitter und unwiederbringlich - nicht nur für die Protagonisten dieses Romans.

 

Wenn ich oben schrieb, der Roman sei von Melancholie durchdrungen, bedeutet dies nicht, dass es traurig stimmt, ihn zu lesen. Er liest sich sehr lebhaft, da er zu großen Teilen aus Gesprächen besteht, die direkt wiedergegeben werden. Und wenn nicht gesprochen wird, liest man die Gedanken den Gärtners, der in der Ich-Form alles erzählt, was er sieht, hört und erinnert. Das ganze Buch ist ein Gespräch in verschiedenen Stimmen und Schattierungen, wie die Aufführung eines Musikstückes durch ein Orchester.

 

Und dann muss noch erwähnt werden, dass das Buch des mare Verlags ausnehmend schön gestaltet ist.

Schuber und Leineneinband ziert ein jugendstilhaftes Bild mit Garten und Treppe, die zur Villa hinauf führen, das Papier ist besonders glatt - die Freude, das Buch in der Hand zu halten gesellt sich zur Freude an der Geschichte.

 

 

 

 

 

 

Mercé Rodoreda: Der Garten über dem Meer

Übersetzt von Kirsten Brandt

mareverlag, 2014, 240 Seiten

Berlin Verlag Taschenbuch, 2016, 240 Seiten

(Originalausgabe 1967)