Ralf Rothmann - Im Frühling sterben

Im Mittelpunkt stehen zwei Siebzehnjährige, die im Februar 1945 freiwillig in die Waffen-SS eintreten.

Die Freiwilligkeit sah so aus, dass es Musik und Bier gab, ein Offizier den anwesenden Männer nahelegte, in die siegreiche SS einzutreten und sogleich hinzufügte: "Wer dagegen ist, kann ja jetzt aufstehen."

 

Fiete, einer der beiden, um die sich der Roman dreht, strafft sich kurz, als würde er überlegen, genau dies zu tun.

Sein Freund Walter zischt ihm daraufhin ins Ohr: 

"Bist du irre? Bleib sitzen! Die Küche ist voller SS.

Die machen Hackfleisch aus dir!"

 

Beide treten ein, beide ohne Überzeugung. Fiete ist der etwas Aufmüpfigere. Wenn der Verwalter des Hofes, auf dem die beiden Jungen als Melker arbeiten, nicht da ist, nimmt er es etwas lockerer mit der Arbeit, seine Genauigkeit lässt nach.

Walter ist der Ordentlichere, Angepasste, wenn man so will.

Er will einfach keinen Ärger.

 

Nach einer dreiwöchigen Ausbildung (die normale Dauer war früher drei Monate) werden sie ins Feld geschickt.

Fiete an die Front, Walter ist Fahrer in einer Versorgungs-einheit. Über Bayern, wo sie beim Essen holen bombardiert werden und Fiete erstmals vom Verschwinden in den Wäldern spricht, werden sie nach Ungarn befördert.

 

Auf einem Bauernhof erlebt Walter eine grausige Szene,

die ihn ganz tief in die Gräuel des Krieges wirft.

Ein Ehepaar und deren blinde Tochter stehen mit Schlingen um den Hals auf wackligen Hockern. Partisanen sollen sie sein. Doch Walter kennt die Leute: "Es sind gewöhnliche Zivilisten, nette Leute, wir durften in ihrer Wohnstube schlafen. Und sie haben unsere Verletzten gepflegt und die Transporttiere gefüttert! Die kann man doch nicht einfach liquidieren!" Den Soldaten interessiert das nicht. Er hat den Knoten extra so gelegt, dass das Sterben länger dauert, "das bist du seinen Opfern einfach schuldig", belehrt er Walter.

 

Diese kalte Grausamkeit zeichnet die Männer aus, die die Befehle geben und über Leben und Tod bestimmen.

 

Walter kommt schließlich nach Totis, im dortigen Lazarett trifft er Fiete wieder. Das Lazarett wird bombardiert, die beiden können sich in eine Kirche retten - in der hausen jetzt Kühe, das gibt der Szene eine Rückbindung an die Zeit vor ihrem Einsatz im Krieg. Fiete fragt Walter: "Wie würdest du eigentlich türmen?" Gar nicht, denn Walter weiß, dass er keine Chance hätte. Die Feldjäger sind überall und knüpfen jeden sofort auf. Sich raushalten und hoffen, dass alles schnell vollends zu Ende geht, ist seine Devise.

 

Walter erfährt, dass sein Vater ganz in der Nähe gefallen ist. Ein brutaler Mann, zu dem er nie ein gutes Verhältnis hatte. Aber nun, da er tot ist, möchte Walter sein Grab besuchen.

Er erhält eine Sondergenehmigung (weil er den Sohn des Kommandanten gerettet hat) und ein Fahrzeug. Auf der Suche nach dem Grab begegnet er Flüchtlingen, die gen Westen ziehen, erhängte Soldaten baumeln am Wegrand, eine Gruppe Juden wird in ein anderes Lager geführt (die Wächter tragen Kneifzangen am Gürtel, wegen der Goldzähne), Soldaten schlagen mit Stöcken und Krücken auf ihre Kameraden ein, um noch einen Platz auf einem Fahrzeug zu ergattern, überall stehen Panzerwracks - der Exodus ist total, ist brachial.

 

Walter findet das Grab nicht ("In Stuhlweißenburg ist jetzt der Iwan, Junge. Da findest du nur dein eigenes Grab!"), er kehrt zurück nach Györ. Dort hört er, dass Fiete im Keller der Kommandantur eingesperrt ist. Fiete wollte desertieren,

ihm droht die Hinrichtung. Er hätte trotz seiner Verletzung nochmal an die Front gehen sollen, ihm war klar, dass das den sicheren Tod bedeutet hätte.

Walter will sich beim Hauptsturmführer Domberg für Fiete einsetzen. 

 

"Ich komme wegen einem Kameraden. Er sitzt im Rübenkeller." ... "Nach wegen immer Genitiv", sagte er, griff in die Schublade und steckte sich eine Zigarette an. "Wegen eines Kameraden kommen Sie."

Mit dieser grammatikalischen Spitzfindigkeit fängt das Gespräch an, Domberg weist auf den "leisen Bronzeton" hin, den der Genitiv über die Dinge legt und die Seele verfeinert.

 

Domberg trinkt Kaffee, nascht Zucker, deklamiert Verse, Walter spricht von der Zuverlässigkeit seines Freundes.

"Er ist eben achtzehn geworden, Sturmbannführer. Die Eltern sind in Hamburg verbrannt, bei den Angriffen, und seine Liebste hat die Fernheirat beantragt, sie kriegt ein Kind ... Ich springe auch für ihn ein, wenn Sie wollen. Sie können mich an die Front schicken, dahin, wo er verwendet werden sollte. Trecker kann er fahren, also wird er auch mit einem Krupp oder Borgward klarkommen, und Sie hätten keinen Ausfall hier..."

 

Walter bietet sein Leben im Tausch, aber Domberg hat einen anderen Begriff von Ehre, Treue, Moral.

"Sie und Ihre Stubenkameraden werden ihn morgen früh wie angeordnet füsilieren, und falls Sie sich weigern oder sich einfallen lassen, krank zu sein, können Sie sich gleich mit an die Wand stellen. Ist das klar?! ... Aus Menschlichkeit, natürlich. Weil du sein Freund bist, wie du sagst. Da wirst du gut zielen, damit er nicht leidet."

 

Dieses Gespräch ist ein Lehrstück und gehört zum Besten, was ich jemals über Kälte, Perversion und Zynismus der Mächtigen gelesen habe. Dombergs Verhalten und seine Verdrehung moralischer Begriffe beleuchten die Ideologie der Nazis so präzise, besser geht es nicht.  In diesen knapp zehn Seiten konzentriert sich das Surrogat einer Weltanschauung und wie sie mit Hilfe intelligenter und gebildeter Menschen vertreten und gelebt wird.

 

Walter überlebt den Krieg, er kommt nach Hause.

Zuerst zur Mutter ins Ruhrgebiet, von dort reist er nach Norddeutschland zurück auf den Hof, wo er Melker war.

Er findet auch seine Freundin Elisabeth wieder, nach ein wenig Überzeugungsarbeit willigt sie ein, ihn zu heiraten. Insofern nimmt der Roman ein gutes Ende.

 

Walters Geschichte ist angelehnt an die von Ralf Rothmanns Vater. Das Sterben des Vaters und die Suche des Sohnes nach seinem Grab bildet den Rahmen des Romans. 

Noch auf dem Sterbebett ist der Vater im Krieg, er kam nie ganz aus diesem zurück, lebte in einer immer dichter werdenden Stille und Melancholie. 

 

Diese Stille ist dem Roman eingeschrieben. 

Es gibt an keiner Stelle irgendeine Art von Kriegsromantik. Die Sprache ist sehr klar, die Bilder deutlich.

So schreibt er beispielsweise, dass die Männer, wenn es gerade nichts zu reparieren gab, Birken fällten und Kreuze auf Vorrat zimmerten. Weiter hinten ist zu lesen, dass es in einer bestimmten Gegend keine Birken mehr gab. 

Weniger zurückhaltend ist die Schilderung der Leiden der Soldaten, als es weder Medikamente noch Verbandszeug mehr gibt, als die Brutalität ins Unvorstellbare wächst.

Seine Beschreibungen sind realistisch, aber nicht voyeuristisch. Rothmanns Sympathie für jene, die unter die Räder kommen, ist groß - er drückt sie aus in einer feinen Poesie.

 

Walters vorletzter Besuch bei Fiete im Keller:

"Walter bat ihn, den Kopf zu neigen, und strich die Salbe auf die Kratzstellen zwischen den Stoppeln. Dann knöpfte er ihm Mantel und Hemd auf, hob den gesunden Arm an und begutachtete die Achsel. Zwischen den schweißnassen Haaren klebte unzählige Nissen, kleiner als Sesamkörner, ein Gefühl wie Sand unter den Fingerkuppen, und er zog seinen Kamm aus der Tasche, harkte sie aus, so gut es ging, und massierte auch hier etwas Salbe ein. Sie brannte unter den Fingernägeln."

 

Rothmanns Roman könnte ein Klassiker der Antikriegs-literatur werden.

Auch deshalb, weil nicht die Generation der Befehlshaber im Mittelpunkt steht, sondern die Jungs, die ganz am Ende noch in die Kriegsmaschinerie gerieten und keine Möglichkeit hatten, sich rauszuhalten. 

Mutig setzt sich Walter ein, nicht "nur" für seinen Freund Fiete, er war auch ein Fürsprecher für die Bauernfamilie und half Verwundeten, die er hätte liegen lassen können.

Und doch hat er mit einem einzigen Schuss eine große Schuld auf sich geladen, er ist der tragische Held, der unschuldig schuldig wird. Weil er leben wollte.

 

 

 

 

 

 

 

Ralf Rothmann: Im Frühling sterben

Suhrkamp Verlag, 2015, 234 Seiten

Suhrkamp Taschenbuch, 2016, 233 Seiten