Vita Sackville-West - Unerwartete Leidenschaft

Viele Menschen verbinden den Namen Vita Sackville-West (1892-1962) zuallererst mit Sissinghurst Castle. Unter ihrer Ägide wurde der Garten dieses Schlosses zu dem, was er bis heute ist: einer der beliebtesten und meistbesuchten Gärten Englands.

Berühmt ist vor allem der "Weiße Garten", berühmt sind auch die Bücher zu Gartenthemen, die sie verfasste.

In diesen behandelt sie alle erdenklichen Fragen rund um Pflanzenzucht, Pflege und Gestaltung eines Gartens.

Und zwar mit spitzer und eleganter Feder.

 

Außerdem kennt man sie als Geliebte der Schriftstellerin Virginia Woolf, deren Roman "Orlando" als Liebeserklärung an Vita gilt.

 

Vitas Ehe mit Harold Nicolson, geschlossen 1913, hielt bis zu Vitas Tod. Sie basierte auf Vertrauen, Respekt und Toleranz und wurde im Lauf der Jahre immer inniger. 

Sehr schön beschreibt der jüngste Sohn des Paares,

Nigel Nicolson, diese Verbindung in seinem Buch

"Porträt einer Ehe." 

Die innige Zugewandtheit der beiden schloss mit ein, dass beide völlige Freiheit bei der Wahl ihrer außerehelichen Partner hatten. Beide lebten ihre Neigungen aus, ohne den Ehepartner dadurch zu verlieren. Und sie schloss auch ein, dass keiner der beiden seine beruflichen oder künstlerischen Ambitionen hinter denen des anderen zurückstellen musste.

 

Ganz anders die Ehe von Henry und Deborah Holland, geadelte Lord und Lady Slane. Dieses Paar, bzw. die Witwe Lady Slane, ist die Protagonistin des Romans "Unerwartete Leidenschaft", im Original "All Passion Spent."

 

Henry Slane ist im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben. Seine Witwe ist auch schon stolze achtundachtzig, das älteste "Kind"  ist achtundsechzig. Vier Söhne und zwei Töchter haben die beiden, viele Enkel und unzählige Urenkel.

Von all diesen möchte Lady Slane nichts mehr wissen, die jungen Leute bringen zu viel Unruhe ins Leben. In ihrem Alter möchte man verweilen und nach hinten schauen,

jedes Vorwärtsstreben ist einem fremd.

Wirklich?

 

Sie überrascht ihre besorgten Nachkommen damit, dass sie nicht in der Familie herumgereicht werden möchte (man muss sich um sie kümmern, sie soll aber keinem dauerhaft zur Last fallen und jeder soll ein bisschen an ihr verdienen). Sie verkündet noch vor der Beerdigung ihres Mannes, dass sie beabsichtigt, in ein kleines Haus nach Hampstead zu ziehen. Dies hat sie vor dreißig Jahren schon entdeckt, sie ist fest davon überzeugt, dass es immer noch zu vermieten ist.

 

Die versammelten Kinder sind sprachlos. Gerade noch verkündeten sie, Mutter sei "ganz wundervoll," was nichts anderes bedeutet, als dass sie "so etwas wie ein Einfaltspinsel" sei. Es schien klar zu sein, dass sie "irgendwo untergebracht" werden musste - und nun entwickelt sie plötzlich völlig unerwartet einen eigenen Willen.

 

Und setzt ihn auch noch in die Tat um.

Sie nimmt Kontakt zum Vermieter auf, das Haus steht leer,

es hat auf sie gewartet und der etwas verschrobene

Herr Bucktrout überlässt es ihr mit Vergnügen.

Er organisiert auch gleich die Handwerker, allen voran

Herrn Gosheron, auch er schon nicht mehr der Jüngste, aber ein Meister in allen Fächern. 

Zusammen mit ihrer Zofe, der nur 2 Jahre jüngeren Französin Genoux, die seit der Hochzeit bei "miladi" lebt, zieht sie nach Hampstead - und fühlt sich sofort wohl.

 

Hier hat sie Zeit, um über ihr Leben nachzudenken.

Vita Sackville-West ist weder eine Frauenrechtlerin, noch eine Anhängerin der Labour-Party. Doch Lady Slanes Gedanken kreisen vehement um die Ungerechtigkeiten der verschiedenen Möglichkeiten, die Männern und Frauen zustehen. Den Männern: alle, den Frauen: die Ehe.

Sie hat es nicht schlecht getroffen mit Henry, sie war Vizekönigin von Indien, sie war die Frau des Premierministers, sie war eine wichtige Person der Gesellschaft, aber sie konnte niemals sie selbst sein.

 

Ihr Traum war gewesen, Malerin zu werden. Diesen Traum begrub sie mit dem Hochzeitsschleier. Henry hätte absolut nichts dagegen gehabt, wenn sie ein bisschen gemalt hätte, hübsche Landschaftsaquarelle oder Blumen, aber das ist nicht das, was sie meinte mit "Malerin."

Das hätte ein eigenständiges, freies Leben bedeutet, nichts mehr, nichts weniger.

Doch Frauen stand nicht einmal eine gründliche Bildung zur Verfügung. Ein Leben lang litt Deborah Slane unter den Lücken, die sie in Gesellschaften immer überspielen musste. Nun, in Hampstead, ist die "so glücklich wie noch nie mit ihren zwei alten Herren." Bucktrout und Gosheron lassen ihr die Freiheiten, die sie nie hatte. Hier befindet "sie sich vollständig wohl und im Gleichgewicht."

 

Im zweiten Teil des Romans - Lady Slane hat sich nun in ihrem ersten eigenen Domizil niedergelassen und eingerichtet -  führt sie sich ihr Leben vor Augen.

Ihre Hoffnungen, ihre Enttäuschungen, ihre vollständige Anpassung an die Familie.

Sie macht Henry keinen persönlichen Vorwurf, er handelte in Übereinstimmung mit dem Zeitgeist. Dieser Gedanke mildert die Schmerzen ein bisschen, aber ein Leben lässt sich nicht wiederholen. Zuvorkommend war er gewesen, "vielleicht hatte er bewusst oder unbewusst versucht, ihre Sehnsucht unter einer Fülle von Decken und Kissen zu ersticken, gleichsam ein gebrochenes Herz auf einem Federbett zur Ruhe zu bringen."

 

 

Sackville-West schreibt diese Gedanken Deborahs ohne Bitterkeit nieder. Sie schreibt mit der eleganten Feder, die so wohltuend aus der angelsächsischen Literatur bekannt ist. Ihre Gedanken scheinen nicht nur matt durch, sie benennt sie explizit und sie gestaltet daraus einen Roman, der neben den Geschlechterfragen auch sehr einfühlsam (sie war bei seiner Niederschrift noch keine vierzig Jahre alt) über das Thema Alter spricht.

An der Anzahl der gelebten Jahre kann man es nicht festmachen. Ein bisschen, die Augen lassen nach, der Rücken schmerzt, aber der Gestaltungswille kann stärker sein als je zuvor - und vor einer unterwarteten Leidenschaft ist man

nie sicher.

 

Denn plötzlich tritt auch noch Herr FitzGeorge in ihr Leben. Lange schon ist er ein Freund ihres jüngsten Sohnes Kay, ohne dessen Wissen nimmt er Kontakt auf zu Lady Slane.

Sie waren sich schon einmal begegnet in Indien, da war sie Vizekönigin und Herr FitzGeorge ein reisender junger Mann, der die Welt kennen lernen wollte.

 

Er hat es im Lauf seines Lebens zum Millionär gebracht, lebt aber in einer winzigen Wohnung, die vollgestopft ist mit Kunstgegenständen. Er ist nicht nur sparsam, sondern geizig, er lebt freiwillig völlig allein, ganz seinen Sammlungen hingegeben.

Die Erinnerung an die Begegnung vor mehr als fünfzig Jahren erschüttern Lady Slane. Nicht, weil es zu einer Pikanterie gekommen wäre, nein, ihr Verhalten war immer tadellos. Aber Herr FitzGeorge hatte erkannt:

"Das ist eine Frau, deren Herz gebrochen ist." Lady Slane erwidert, ihr hätte nichts gefehlt, viele hätte sie beneidet, sie könne sich nichts beklagen.

"Außer dass Sie um das Einzige betrogen waren, das wirklich zählte. Für einen Künstler ist nur die Erfüllung seiner Begabung von Bedeutung. ... Sie waren zu jung, nehme ich an, um es besser zu wissen, aber als Sie jenes Leben wählten, sündigten Sie gegen den Geist." 

Sie stimmt ihm zu.

 

Die Frage ist, ob sie wirklich eine Wahl hatte, der ganze Roman erzählt davon, dass sie sie nicht hatte.

Vielleicht ein beabsichtigter Widerspruch?

 

Zumindest stirbt Herr FitzGeorge bald darauf.

Und hinterlässt Deborah Slane sein riesiges Vermögen, auf das sich die Verwandtschaft gerne gleich stürzen würde.

Aber auch hier kommt es anders, als sie denkt.

Lady Slane hat andere Pläne, eigene.

Die Urenkelin Deborah dankt es ihr und damit schließt sich ein Kreis, denn diese junge Deborah beschließt, schon frühzeitig ihren eigenen Weg zu gehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vita Sackville-West: Unerwartete Leidenschaft

Übersetzt von Hans B. Wagenseil

Klaus Wagenbach Verlag,  2015, 240 Seiten

(Erstausgabe 1931)