Shumona Sinha - Erschlagt die Armen!

Shumona Sinha hat nach der Veröffentlichung dieses Romans ihren Arbeitsplatz als Dolmetscherin für die französische Asylbehörde verloren.

Zu deutlich beschreibt sie darin die Zustände in eben dieser Behörde, gesehen durch die Augen ihrer Protagonistin, die in der Ich-Form erzählt, und die ebenfalls Dolmetscherin ist.

 

Erschienen ist das Buch schon 2011, also noch vor der großen Flüchtlingswelle, ausgezeichnet wurde es mit diversen Preisen, erst im Juni 2016 mit dem  "Internationalen Literaturpreis", der vom Berliner Haus der Kulturen für "herausragende fremdsprachige Titel der internationalen Gegenwartsliteraturen und seiner deutschen Erstübersetzung" vergeben wird.

Sehr provokant ist natürlich der Titel, der auf ein Gedicht von Charles Baudelaire zurückgeht. In ihm erscheint der Tod als ein Hoffnungsträger, als eine Tür in ein besseres Land.

 

Als ein solch besseres Land erscheint vielen vielen Menschen Frankreich, sie versuchen dorthin zu gelangen und sie möchten bleiben und sich ein neues Leben aufbauen.

Der Autorin, die 1973 in Kalkutta geboren wurde, und die seit 2001 in Paris lebt, gelang der Sprung. Tag für Tag war sie bei ihrer Arbeit mit jenen konfrontiert, die um eine Anerkennung als Flüchtling und eine Aufenthaltserlaubnis kämpften.

 

In ihrem Roman gibt es drei Gruppen von Personen:

die Antragsteller, die Entscheider und die Dolmetscher.

Letztere sind natürlich angehalten, sich neutral zu verhalten und lediglich die Worte von einer Sprache in eine andere zu übertragen. Was nicht einfach ist.

 

Die Erzählerin, ich nenne sie im folgenden die Dolmetscherin, arbeitet mit verschiedenen Typen von Entscheidern zusammen, die eines gemeinsam haben:

sie alle sind völlig erschöpft. Eine Frau findet sie auch persönlich sehr anziehend, Lucia mit den wundervollen Augen. Es schwingt ein wenig Erotik mit, doch es hat auch den Anschein, als würde die Dolmetscherin sich damit über Wasser halten, und es gibt Momente, in denen Lucia nichts anderes ist als eine abgearbeitete Beamtin.

 

Als Dunkelhäutige müsste die Dolmetscherin sich auf die Seite der Asylsuchenden stellen, doch sie ist es leid, sich immer und immer wieder die gleiche Geschichte in wenigen Variationen anzuhören. Den Männern wurde zusammen mit der Überfahrt und falschen Papieren auch eine Geschichte verkauft, die sie nun den Entscheidern erzählen.

Schon nach wenigen Fragen wird klar, dass sie nicht verfolgte Christen sind, weil sie nicht einmal Weihnachten kennen,

es wird klar, dass sie nicht der Widerstandsgruppe A oder B angehörten, sie kennen nicht die Forderungen und nicht einmal die Embleme jener Gruppen.

 

Sie sind vom Asylrecht gezwungen, eine passende Geschichte zu erfinden.

 

"Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einiges Märchen und vielfältige Verbrechen. ... Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen. Es war im Übrigen untersagt,

das Wort Elend auch nur in den Mund zu nehmen.

Es brauchte einen edleren Grund, einen, der politisches Asyl rechtfertigte. ... Also mussten sie die Wahrheit verstecken, vergessen, verlernen und eine neue erfinden.

Die Märchen der menschlichen Zugvögel."

 

Die Dolmetscherin fährt mit der Metro in andere Viertel,

die wie Ghettos oder wie Freiluftbasare wirken.

Sie sind andere Länder, obwohl sie noch innerhalb der Metropole liegen.

Hier erlebt sie die Angst der Menschen, vor allem der Frauen, hautnah, die Angst überträgt sich auf sie selbst.

Und manchmal schlägt sie in Wut um. 

Diese beiden Gefühle entspringen ihrer Arbeit in den grauen Büros mit ihren blickdichten Scheiben, denn hier ballt sich alles zusammen, was sie draußen sieht, drinnen hört, aus der Erfahrung kennt. Gepaart mit dem, wovon sie sich herausgearbeitet hat. 

 

In Situationen, in denen sie sich zu verlieren glaubt, hilft ihr nur noch ein Spiegel.

"Verzweifelt suche ich einen Spiegel. So ist es immer. Mein Verlangen wird schnell verzweifelt. Ich muss mich sehen.

Der Spiegel hat einen Erinnerungseffekt. Er bewahrt meine Bewegungen und Grimassen. Mich sehen heißt mich erinnern. Mich nicht vergessen. Das ist Simultanerinnerung. Die Erinnerung hat einen Spiegeleffekt.."

 

Der Roman ist teilweise ein Gespräch, das die Dolmetscherin mit Herrn K., einem Beamten, der ihre Aussage aufnimmt,

führt, und ihren Erinnerungen.

Sie muss Herrn K. erklären, warum sie einem Mann in der Metro, offensichtlich einem Antragsteller, eine Weinflasche auf den Kopf geschlagen hat.

 

Sie ist unterwegs zu Lucia, "und ich streichelte meine Gedanken an Lucia, als ob ich einen kleinen Spatzenkäfig an mich gedrückt hielt, in der Menge gegen die Menge, voller Angst, dass er jederzeit zerbrechen könnte."

 

In dieser schönen Stimmung der Vorfreude rempelt ein Mann sie an. Sie geraten aneinander, er beleidigt sie, packt sie an ihrem Pelzkragen. "Ich kenne den Mann nicht, aber er hat mich wiedererkannt. Er erinnert sich an seinen Leidensweg, an die Erniedrigung, an sein Elend vor mir, vor den Fragen, von denen es auf dem Computerbildschirm nur so wimmelte." Sie weiß nicht, ob es dieser oder jener Mann ist, zu sehr gleichen sie sich, verschwimmen zu einer Masse der Elenden.

Als sie ihn angreift, tritt sie aus sich selbst heraus, überschreitet eine Grenze, das ist unumkehrbar.

 

In einem inneren Monolog greift sie Herrn K. am Ende der Untersuchungen an. Er wird niemals in ein Armenviertel gehen, er lebt anderswo. Er kennt das Leben der Exilanten nicht, er wird es nie kennen lernen, nicht einmal auf den Friedhöfen liegen sie nebeneinander. Die Einheimischen und die anderen.

 

Sie hat einen Mann angegriffen, dessen Geschichte sie nicht mehr ertragen konnte, wie sie die Arbeit als Vermittler nicht mehr ertragen kann, wie sie den Zwang, eine passende Geschichte erzählen zu müssen, um eine Genehmigung zu bekommen, nicht mehr ertragen kann.

 

Ihr Leben wird nun ebenfalls auf ein "Behördenformular zurechtgestutzt", die Behörde entscheidet über ihre Zukunft.

 

Dieser zweite Roman Sinhas ist reich an intensiven Bildern, er ist mit seinem Wandern zwischen Gespräch, Monolog und Erinnerung abwechslungsreich, er verstößt gegen die

Political Correctness, er ist weder Plädoyer noch Pamphlet, doch hochpolitisch. 

Er ist überaus lesenswert und er wird die aktuelle Debatte überdauern. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen!

Übersetzt von Lena Müller

Edition Nautilus, 2015, 127 Seiten

(Französiches Original 2011)