Michael Wildenhain - Das Lächeln der Alligatoren

Der fünfzehnjährige Matthias macht mit seiner Mutter Urlaub auf Sylt.

Dort lebt sein jüngerer Bruder Carsten in einem Heim. Er ist seit einem Unfall geistig behindert. Alles, was ihn interessiert ist sein Beutel mit verschiedenfarbigen Bauklötzen,

aus denen er Bauwerke kreiert, die mathematisch wohldurchdacht und nicht unkompliziert sind. Carsten reagiert auf niemanden, nur seine Pflegerin Marta lässt er an sich heran. Diese achtzehnjährige Praktikantin gefällt auch Matthias sehr gut. Er beobachtet sie manchmal mit dem Fernglas, wie sie badet oder mit ihrer Freundin Peggy am Strand liegt.

 

Das ist die Ausgangssituation für einen Roman, der viel mit eingeschobenen Sätzen, die blitzartige Erinnerungen sind, arbeitet. 

 

Matthias begegnet fünf Jahre später Marta wieder. In einem Seminar an der Uni in Berlin. Sofort kommen die Erinnerungen an eine Party im Heim des Bruders in ihm hoch, an einen Kuss und ein heftiges Verliebtsein, das mit der Abreise am Ende des Urlaubs nicht verschwand.

Marta, die Frau, die gesagt hatte, der stumme Carsten könne singen und die ihn nie als behindert, sondern als "besonders" ansah, ist fest in Matthias verwurzelt.

 

Nun also die Wiederbegegnung im Jahr 1977 in einem Seminar über Kognitionswissenschaft und Künstliche Intelligenz. Marta fällt durch kritische Frage auf, Matthias springt ihr bei, doch gegen den arroganten Professor kommt er nicht wirklich an. Aber das ist in diesem Moment nicht so wichtig, wichtig ist, dass er Marta wiedergefunden hat.

 

Sie nimmt ihn später mit in ihre WG, die genau so ist, wie man sich eine WG in den Siebzigern in Berlin vorstellt. Bevölkert mit bärtigen Männern in selbstgestrickten Pullovern, ständig am Jointbauen und diskutieren.

 

Matthias hat mittlerweile einen neuen Vater. Sein leiblicher Vater verließ die Familie schon vor langer Zeit. Der Bruder des Vaters, Prof. Dr. Dr. Manfred Kastèl, kinderlos und ohne Frau, übernimmt Matthias quasi. Er lebt in einer Villa im Westend, hat ein Ferienhaus in der Lüneburger Heide, er ist Arzt und Psychologe. Er kann Matthias ein besseres Leben bieten als der Vater, der als Handelsreisender tätig ist und sowieso eine neue Familie hat.

 

Dieser Dr.Dr. ist spezialisiert auf die Gehirne von Kindern.

Und auf Nahrungsaufnahme bzw Hunger. Er war der "Kopf einer Kommission. Es gab keine Erfahrung. Ich hatte die Erfahrung. Mit Nahrungsentzug, Hunger. Ich habe die Zwangsernährung empfohlen. Auch da gab's keine Erfahrung. Und Holger Meins ist gestorben."

 

Holger Meins wird zur Leitfigur einer linken Gruppierung, die die Gewalt des Staates anprangert, sich aber selbst zu einer Terrorgruppe entwickelt.

 

Dass Marta Teil dieser Gruppe ist, merkt Matthias sehr spät. 

Spät auch erfährt er, woher sein (neuer) Vater Erfahrungen mit Nahrungsentzug hat und woher seine Kenntnisse des menschlichen Gehirns stammen.

 

Matthias und Marta werden für eine kurze Zeit ein Paar.

Sie übernachtet bei ihm in der Villa, jenem Ort, an dem sie Manfred Kastèl erschießen wird. Vor seinen Augen.

 

"Warum wurde mein Vater ausgewählt? Weil er als Experte

in einer Kommission für den Tod eines Gefährten verantwortlich gemacht worden ist? Wegen der Gelegenheit? Also wegen mir?...

Ist der Gedanke in ihr entstanden, während wir uns getroffen, unterhalten, erneut getroffen haben?...

Hat sie Mitleid mit mir gehabt? War alles Kalkül?...

Folgt alles der Logik des Krieges, der meiner nie war?"

 

Matthias sieht Marta auf der Anklagebank, er wird sie im Gefängnis besuchen. Sie hat ihm schon immer, immer wieder, geraten, sie zu vergessen. Das wird ihm nie gelingen.

 

Mit Mitte Vierzig, Matthias ist Professor am Institut für Neurowissenschaften, taucht Marta plötzlich wieder bei ihm auf. Fragt wann er Carsten zum letzten Mal besucht hat.

Das ist Jahr her. Marta lebt seit langer Zeit im Untergrund, wird immer noch gesucht - lädt Matthias aber ein zu einem Konzert für Orgel, die sie spielen wird und Gesang: Carsten.

 

Matthias fährt nach Sylt. Nach Martas Tod, erschossen von der Polizei bei diesem Konzert, fragt er sich wieder, ob alles Kalkül war. Ob sie wollte, dass er die Polizei auf ihre Spur führt, ob sie erschossen werden wollte, vor seinen Augen?

 

In diesem dritten und letzten Teil des Romans, überschrieben mit "ein Mann", wechselt der Autor zwischen der Ich- und der Er-Perspektive. Matthias geht auf Abstand zu sich selbst, scheint sich von außen, sich selbst fremd, zu betrachten. Erinnerungsfetzten schieben sich in die Gegenwart, manchmal zweifelt er an der Wirklichkeit, hält sie für einen Traum.

 

Was bleibt, ist die Erinnerung an Marta, die Frau seines Lebens, mit der er nie richtig zusammenlebte.

 

Die Komplexität des Romans ist sehr hoch:

erste Liebe eines Fünfzehnjährigen, das Verhalten der Eltern angesichts des behinderten Bruders, die Schuldgefühle Matthias' (er war zugegen bei dem Unfall), der Wechsel des Vaters und der damit verbundene Übergang in eine andere Welt, die Wiederbegegnung mit Marta, ihr revolutionärer Kampf gegen das Establishment, die Taten des Vaters während der Nazizeit, das Klima des geteilten Deutschland in den Siebzigern, die eingestreuten Gedanken zum Thema Künstliche Intelligenz, die unecht wirkende Behaglichkeit des jungen Professors Matthias mit kreativer Frau und netten Kindern in den Nullerjahren, ständig in die Gegenwart schießende Erinnerungen, die Fragen, auf die er keine Antworten (mehr) bekommen wird:  der Roman ist jedoch keineswegs verwirrend, Wildenhain beherrscht sein Handwerk. Er versteht es, die vielen Aspekte in eine Geschichte zu verweben, die sehr durchdacht gestaltet ist, ohne dadurch sperrig zu werden oder wie eine theoretische Abhandlung zu klingen.

 

Die Pole der agierenden Personen liegen weitest möglich auseinander - der Junge aus der Villa des Naziarztes, der Jungprofessor mit dem geistig behinderten Bruder, die Linksterroristin, die als einzige Mitleid mit diesem Bruder hat, dazwischen eine handlungsunfähige Mutter - diese Personen eingebettet in die Geistesströmungen ihrer Zeit: das ist alles sehr gut gelungen.

 

 

 

 

 

 

 

Michael Wildenhain: Das Lächeln der Alligatoren

Klett-Cotta, 2015, 210 Seiten

dtv, 2016, 248 Seiten