Margriet de Moor - Der Virtuose

Dieser virtuos komponierte Roman der niederländischen Schriftstellerin, Pianistin, Sängerin und Architektin de Moor entführt den Leser ins

18. Jahrhundert. Und zwar nach Neapel, das ganz im Bann des neu eröffneten Operntheaters San Carlo steht. Man geht hin, um gesellschaft-lichen Umgang zu pflegen, zu essen und zu trinken und um sich verzaubern zu lassen.

 

Die junge Gräfin Carlotta (aus guter Familie, leider verarmt), ist Anfang der Zwanziger, Mutter zweier Töchter, verheiratet mit Berto, einem wesentlich älteren Mann. Sie leben auf dem Land, doch Carlotta will nach Neapel, sie will eintauchen in ein Leben, das es nur dort gibt. Sie trifft mit Berto eine "freundschaftliche Vereinbarung. Nach einer in Neapel verbrachten Saison würde ich nach Hause zurückkehren und wieder schwanger werden. Wenn die Madonna es wollte, würde ich einen Sohn zur Welt bringen."

 

Ihre ältere Schwester Angelica Margherita lebt bereits dort, sie ist Tänzerin, Gesellschaftsdame, ganz der Schönheit zugewandt und genießt das Leben in vollen Zügen.

 

Derzeitiger Star der Oper ist Gasparo, ein Kastrat.

Carlotta verfällt ihm sofort.

"Ich bin in Todesnöten ... Ich muss ihn auf der Stelle sprechen," sagt sie zu Angelica. "Heute Nacht noch? -Allerspätestens heute Nacht."

Angelica bringt die Schwester in den Palast, in dem nach der Vorstellung gefeiert wird und in dem sich viele andere Menschen, die Gasparo ebenfalls verfallen sind,versammeln.

 

Doch eines unterscheidet Carlotta von all diesen Menschen: die beiden kennen sich aus Kindertagen. Gasparo Conti,

der ein Jahr ältere, sang im Kirchenchor, Sonntag für Sonntag hörte Carlotta ihm zu. Nie wieder nach seinem Verschwinden aus dem Dorf hat sie eine solche Stimme vernommen.

Und: es waren die Väter der beiden, die um Gasparos Operation spielten. Conti setzte seinen Sohn ein, um die Spielschuld bei Carlottas Vater zu tilgen.

Lange schon hatte dieser darum geworben, Gasparo operieren und an der Singakademie ausbilden zu lassen. Lange hatte Conti sich gewehrt, nun ist Gasparos Schicksal entschieden. Allerdings wird die Operation nicht ohne die Zustimmung des Kindes durchgeführt.

 

Nach der ersten, vielversprechenden Begegnung reist Gasparo für einige Zeit nach Genua. Carlotta bleibt in Neapel zurück, ist ungenießbar, findet keine Zerstreuung.

Berto hat sich gerade in ein "funkelnagelneues Abenteuer" gestürzt, Carlotta gönnt ihm diesen "blutjungen Sizilianer". Sie lässt sich auf ein Intermezzo mit einem reisenden Franzosen ein, wartet aber ungeduldig auf die Rückkehr Gasparos. Kaum ist er zurück, wird er ihr Geliebter.

 

Im Roman wechseln sich Opernszenen, Begegnungen mit Sängern, Sängerinnen, Musikern, den Reaktionen des Publikums, den Arrangements und Festen ab mit fundierten Schilderungen zur Musik.

Wobei manchmal der Eindruck entsteht, dass nicht über die Musik, sondern über die Liebe gesprochen wird.

 

De Moors Roman feiert sehr freimütig die Schönheit des Lebens und die Erschütterungen, die Liebe wie Musik in allen Menschen auslösen. 

 

Eine Kostprobe:

"... und jeder weiß, dass das gesamte Musikstück, wenn es klappt, dann ganz und gar gebändigte Explosion wird.

Als Sänger schaut man dann, wie weit man gehen kann.

Und das bedeutet natürlich immer zu weit, manchmal nur um eine Idee, aber meistens so weit wie möglich. Wenn man auf einer Fermate ein Messa di voce singt, das langsamer und aufreizender anschwillt und wieder abnimmt, als eigentlich möglich ist, dann fühlt man sich gut und gleichzeitig schlecht, anders kann ich es nicht ausdrücken, nein, glaub mir, das ist dann genauso, als ob Satan und Gott einer Meinung wären. ..."

 

Die sexuelle Freizügigkeit des Adels ist nicht auf Männer beschränkt. Und sie ist nicht auf die Liebe zwischen Mann und Frau beschränkt.

So fragt Carlotta während einer Kleideranprobe freimütig ihre "sehr erfahrene Schwester, ob sie sich außer mit normalen Männern und Frauen auch mal mit einem castrato verlustiert habe". "Er hieß Rafael," ist Angelicas Antwort.

 

De Moors Roman ist kein Beitrag zur Genderdebatte, auch keine historische Untersuchung zur Sexualmoral des frühen 18. Jahrhunderts. Er ist durch und durch ein Kunstwerk, eine sehr stimmige Verflechtung verschiedener Einflüsse (oder Einschläge), die keiner Zeitströmung unterworfen sind.

 

"Es heißt, die Schöpfung sei zu groß für die Menschen, zu groß und zu düster, und deswegen, aus ebendiesem Grund, habe man die Sprache erfunden. Sprache, Worte, und ganz am Ende die Worte der Musik. Gottes Schöpfung, aufgelöst in einem berauschenden Trank menschlicher Mixtur."

 

Wie vereinbart kehrt Carlotta nach einer Saison zurück aufs Land. Sie bringt einen Sohn zur Welt, man empfängt Freunde, inszeniert Opern, vertreibt sich die Zeit, die Jahre gehen dahin.

Als Carlotta fünfunddreißig ist, stirbt Berto bei einem Reitunfall, sie ist "tief erschüttert, völlig verstört und bleibt es auch."

Sie wird nach Neapel zurückkehren, zurück zu Gasparo.

Als dieser einen jungen Schüler hat, dem er nach Rom folgt, um dessen Debüt zu hören, weiß sie, dass die gemeinsame Zeit vorbei ist. Doch sie erlaubt ihm nicht, dass er sich stillschweigend davonschleicht...

 

 

Der mit Prolog und Intermezzo versehene Roman,

der bestimmte Themen immer wieder aufnimmt und durchspielt, der vorausschaut und zurückblickt, in dem ruhige und temporeiche Passagen sich abwechseln,

hat den Charme einer Oper.

In den Hauptrollen Contessa Carlotta und Gasparo Conti,

die vielen Nebenrollen besetzt von Weggefährten und Konkurrenten.

Die Themen: die beiden großen Rätsel Liebe und Musik.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Margriet de Moor: Der Virtuose

Übersetzt von Helga von Beuningen

Hanser Verlag, 1994 (vergriffen)

Taschenbuch im dtv, 1997, 192 Seiten

(Originalausgabe 1993)