Paul McVeigh - Guter Junge

Belfast in den frühen achtziger Jahren, eine Stadt in Europa also, in der ein erbitterter Religionskrieg herrscht,

wie man ihn heute mit anderen Teilen der Welt in Verbindung bringt.

Die Stadt ist streng in katholische und protestantische Viertel eingeteilt.

Die Grenzen können deutlich sichtbar sein, durch eine Wellblechbarrikade oder durch ein Stück Niemandsland.

Oder das eigene Gebiet ist nur durch eine Straße vom Land des Feindes getrennt - in jedem Fall weiß schon ein kleines Kind, wo sie verläuft.

Verirrt sich jemand auf die falsche Seite, kann ihn das das Leben kosten.

 

Im Stadtteil Ardoyne wächst Mickey mit drei Geschwistern auf. Am besten versteht er sich mit seiner kleinen Schwester Maggie, sie ist ein Sonnenschein, den alle mögen, selbst die großen Mädchen aus der Bande, die Mickey das Leben schwer macht. Er lebt in einer permanenten Zwickmühle, denn nicht nur die Mädchen ärgern ihn, auch die Jungen haben ihn dazu auserkoren, Ziel ständiger Hänseleien und Gemeinheiten zu sein.

 

Mickey hat gerade die Elementary School hinter sich und ist unendlich glücklich, dass er danach die St. Malachy´s Grammar School besuchen kann. Diese entspricht dem deutschen Gymnasium. Er wäre der erste seiner Familie, der es auf diese Schule schafft und er erhofft sich davon, all den Kindern seiner jetzigen Schule entfliehen zu können.

 

Doch in den letzten Tagen des Schuljahres an der Holy Cross bekommt er mitgeteilt, dass das St. Malachy´s für ihn nicht infrage kommt. Seine Eltern können das Geld dafür nicht aufbringen, alleine die Schuluniform wäre zu teuer.

Mickey ist am Boden zerstört. Nun kommt er wie all die anderen Jungs auf die St. Gabriel´s - was das bedeutet weiß er von seinem älteren Bruder Paddy.

Dasselbe wie bisher, aber unendlich viel grausamer.

 

Mickey zählt die Wochen, die ihm noch verbleiben, bis er in eine neue Hölle kommt und dieser Zeitabstand gibt die Kapitel des Buches vor.

"Neun Wochen bis St. Gabriel´s",  "Acht Wochen bis

St. Gabriel´s" etc.

Mickey versucht den Gedanken so weit wie möglich zu verdrängen und ein bisschen seine Ferien zu genießen.

 

Als Trostgeschenk hat er von seinem Vater einen Hund bekommen, Killer heißt er. 

Das war das einzige Gute, was der Vater jemals für irgendwen getan hat. Er ist ein Säufer, der die Mutter tyrannisiert und ihr das hart verdiente Geld aus dem Portemonnaie klaut, sobald sie dieses herumliegen lässt.

Einmal machen die beiden einen Spaziergang zusammen. Mickey platzt fast vor Stolz, bis er an einer unwirtlichen Stelle stehen gelassen wird. Der Vater zieht es vor, mit ein paar Saufkumpanen einen zu trinken und ihnen die für Mickey bestimmten Süßigkeiten anzubieten.

 

Diese Szene ist nur eine von vielen, die den Hass Mickeys auf seinen Vater nährt. Er hasst ihn vor allem deshalb, weil er die Mutter so schlecht behandelt und versucht aus diesem Grund immer ein "guter Junge" zu sein, um sie glücklich zu machen.

 

Ein guter Junge ist er wirklich: er ist ein herzensguter Mensch, der davon träumt, nach Amerika auszuwandern

und Schauspieler zu werden. Und natürlich Mutter und Maggie nachzuholen.

Seine Liebe zu Geschichten, seine Phantasie und Träumerei, seine Sensibilität und sein Glaube, dass es Freundschaft zwischen den Menschen geben könnte, machen ihn zu einem Außenseiter, zu einem Spielball und gefundenen Fressen für all jene jungen Menschen, die schon zu Beginn ihrer Pubertät ein für alle Mal mit dem Leben in Ardoyne abgeschlossen haben. Für die Härte und Kampf das einzige zu sein scheinen.

 

"Alle ziehen nach Ardoyne, weil wir keine Fernsehgebühren bezahlen. Und dich keiner überfällt oder bei dir einbricht - höchstens dein eigener Papa! - oder gegen unsere Gesetze verstößt, weil die IRA ihm sonst die Kniescheiben durchlöchert. Wenn man´s nochmal tut, wird man aus dem Stadtteil verbannt, und wenn man doch wiederkommt, ist man tot."

Die Gewalt kommt also nicht nur von außen, sondern auch von innen. Auf politischer, gesellschaftlicher und auf familiärer Ebene.

 

Weil er kein Junge ist, der die männlichen "Tugenden" verkörpert - Mickey ist klein und schmal, wartet sehnsüchtig auf seinen Stimmbruch, er weiß noch nicht was "hobeln" bedeutet, er spielt gerne mit Mädchen - wird er immer wieder als "schwul" oder "warm" bezeichnet. Das ist der Sammelbegriff für alles, was (ein wenig) anders ist. Und den anderen das Recht gibt, sich für überlegen zu halten.

 

Eine friedlichere Zeit bricht an, als der Vater wieder einmal auszieht. Dass er den Fernseher mitgenommen hat, ist sehr schmerzlich für Mickey, aber er ist bereit jeden Preis zu zahlen, wenn nur der Vater weg ist.

Dass dieser eine große Quelle von Übel ist, zeigt sich, als er wiederkommt. Und diesmal auch die Hand gegen die Mutter erhebt. Da beschließt Mickey, dass es Zeit ist, zu handeln.

 

Er weiß, dass Paddy oder der ominöse Onkel Tommy eine Pistole in Killers Hundehütte versteckt haben.

Mickey schmiedet einen Plan....

 

In all dieser Tristesse und Verzweiflung gibt Mickey nicht auf. Er ist ein Kämpfer, aber nicht mit Waffen und nicht für ein politisches Ziel, er kämpft um sein Recht auf Leben.

Um die Zuneigung der Mutter und für seine Zukunft.

Und die liegt ohne Zweifel in Amerika. 

Er weiß, dass immer wieder irische Kinder, deren Väter wegen ihrer Zugehörigkeit zur IRA im Gefängnis sitzen,

in die Vereinigten Staaten eingeladen werden.

Dieses Ziel verfolgt er.

 

Ob die letzte Szene, die Mickey in einem Flugzeug sitzend zeigt, wahr ist oder ein Traum, lässt sich nicht entscheiden.

Aber die Gewissheit, dass er seinen Weg finden wird, hat McVeigh diesem Jungen von dreizehn Jahren eingeschrieben. Er findet durchgängig einen sehr warmen Ton für diesen jungen Lebenskünstler, der der Armut und der allgegenwärtigen Brutalität mit pfiffigen Ideen trotzt und am Ende der Geschichte endlich einmal Glück hat.

Und für dieses ist nicht etwa der Zufall oder das Schicksal verantwortlich, sondern seine resolute Mutter!

 

 

 

 

 

 

 

 

Paul McVeigh: Guter Junge

Übersetzt von Nina Frey und Hans-Christian Oeser

Wagenbach Verlag, 2016, 256 Seiten

(Originalausgabe 2015)