Angharad Price - Das Leben der Rebecca Jones

Dieser Roman erschien 2002, geschrieben wurde er auf Walisisch. Der deutschen Übersetzung liegt die englische Ausgabe von 2012, an der die Autorin selbst mitarbeitete, zugrunde. Schon diese Tatsache wirft ein Licht auf das Thema: die Schwierigkeiten "kleiner" Kulturen und Sprachen, die nur noch von wenigen Menschen beherrscht werden, zu überleben. 

 

Der Roman ist in Wales angesiedelt, er erzählt das ganze

20. Jahrhundert, umfasst aber eine wesentlich ältere Kultur, die sich über mehr als ein Jahrtausend dort entwickelte.

 

Die Ich-Erzählerin "wurde auf den Namen Rebecca getauft, nach meiner Mutter und meiner Großmutter. Vom Moment meiner Geburt an hatte die Tradition mich fest im Griff."

Geboren im Jahr 1905 als ältestes von sieben Kindern, gestorben mit fast neunzig Jahren, ist sie diejenige, die im Rückblick die ganze Familiengeschichte erzählt.

Sie hat nicht geheiratet, hat keine Kinder, ihre Erzählung ist das, was nach ihrem Tod von ihr bleiben wird.

Ihr Versuch fortzubestehen.

 

Rebecca wäre gerne Krankenschwester geworden.

Ihr um ein Jahr jüngerer Bruder Robert träumt als Kind davon, Arzt zu werden. Doch die beiden Söhne, die nach ihnen zur Welt kommen, Gruffydd und William, werden blind geboren. 

Um auch diesen Kindern eine Chance im Leben zu geben, werden sie auf Internatsschulen nach England geschickt,

wo beide eine sehr gute Ausbildung erhalten - dafür wird alles Geld, das die Familie hat, zusammengetragen.

Auch der jüngste Bruder, Lewis, zwölf Jahre jünger als Rebecca, erblindet als Kind. Aus diesem Jungen wird spät im Leben ein Maler, nachdem er seinen Beruf als Programmierer aufgegeben hat. Gruffydd wird Pfarrer in London, William, der zwölf Sprachen beherrscht, übersetzt Texte in Braille-Schrift.

 

Die beiden Ältesten können nur die Dorfschule besuchen, Robert übernimmt den Hof, Rebecca verdient etwas Geld als Näherin, lebt aber bis weit über vierzig mit der Familie des Bruders zusammen und hilft bei allen anfallenden Arbeiten.

Eine tiefe Freundschaft verbindet sie mit ihrer Schwägerin, ihre Nichten und Neffen sind ihr so nah wie eigene Kinder.

 

Das Leben auf dem Bergbauernhof gleicht dem in allen bäuerlichen Gesellschaften: es ist geprägt von der Arbeit,

von den Jahreszeiten, dem Wetter, Ernte und Schafschur. Spät halten Elektrizität und Mobilität Einzug ins Tal, zwei Kriege ziehen über Europa hinweg (Kriegsgefangene sind die ersten Fremden, die längere Zeit im Dorf bzw. auf dem Hof leben), Radio, Fernseher und Telefon bringen die Welt ins Dorf.

Die Familie Jones verfügt über einen kleinen Schatz an Büchern, dieser bleibt für Rebecca die wichtigste Quelle für ihre Traumreisen in alle Welt.

 

Rebecca ist ganz klar in ihrer Familie und in ihrer dörflichen Welt verwurzelt. Ein wenig zieht sie sich zurück, als sie in das Haus der Großmutter am Ende des Tales umsiedelt, dort kann sie in Ruhe ihren Gedanken nachhängen.

Sie sieht auch sehr deutlich, was die traditionelle Art zu leben, den Menschen abverlangt. Die Menge an Arbeit,

die kaum bewältigt werden kann, die beschränkten Möglichkeiten, sich zu bilden, die Unterdrückung aller Träume, die ein bisschen mit Freiheit zu tun haben.

 

Erst im letzten, recht kurzen Kapitel zeigt sich, worin die eigentlichen Schwierigkeiten liegen: nicht in der Arbeit oder der engen Familiengemeinschaft, sondern in der Bedrohung der Kultur.

 

"Die Zerstörung im Tal ist fürs Auge nicht sichtbar. Wir sind blind gegenüber den Schäden durch Umweltverschmutzung, modernen Ackerbau und die Weltwirtschaft. Tschernobyl, BSE, Maul-und Klauenseuche. Die Gefahren für unsere im Tal lebenden Schafherden. Heutzutage machen Bergbauern Verluste. Erzeugnisvielfalt ist ein Muss. Uralte Traditionen laufen Gefahr, zum Gegenstand eines Themenparks zu verkommen, in dem eine Lebensweise nicht mehr ist als eine Frage der Präsentation...." 

Und: "Auf dem Schulhof, auf der Straße und in den Häusern - überall Englisch."

 

Mit dem Verlust der Sprache geht eine Welt unter.

 

Rebecca Jones starb 1917 mit elf Jahren an Diphterie.

Angharad Price schrieb ihre Geschichte als Fiktion.

Wie hätte Rebeccas Leben aussehen können?

Price entstammt selbst der Familie Jones, dem Roman sind Familienfotos und ein Stammbaum beigefügt, die die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Fiktion weiter auflösen. Und ihr ist eine Lebens-Familien-und Landesbiographie gelungen, die sehr wahrhaftig ist.

 

Der Roman wurde nach seinem Erscheinen in Wales sofort zu einem gefeierten Buch, er wurde sogar zum ersten walisischen Klassiker des 21. Jahrhunderts erklärt.

 

Price hat mit ihrem Werk einen eindringlichen, aber keinen sentimentalen Blick auf ein Land geworfen, das in dauernder Veränderung nach Beständigkeit sucht.

Wie ein Mensch.

Interessant ist die Lektüre auch im Vergleich mit Seethalers "Ein ganzes Leben". In diesem Roman ist ein Mann die Hauptperson, der als Waise bei seinem Onkel lebt und dort nur geduldet wird. Dieser Fremdkörper verlässt so früh wie möglich die Familie, kämpft sich durch die Schwierigkeiten des Lebens und erlebt ebenfalls die Modernisierung eines Alpentales. Dieser Mann ohne Wurzeln, der weggeht und wieder zurückkommt, durch seine Arbeit den Fortschritt vorantreibt, beschreibt im Grunde die gleiche Geschichte -

in der männlichen, spiegelverkehrten Variante.

 

Die Globalisierung mir ihrer Tendenz, Individualitäten einzuebnen, gibt gleichzeitig die Chance auf Weite - in der Enge des Tales hätten sich Rebeccas Brüder nicht entwickeln können. Diesem Paradox weicht Price, die junge walisische, Moderne Europäische Literatur lehrende Schriftstellerin, nicht aus. Das bewahrte sie davor, einen "Heimatroman" zu schreiben, auch wenn sie ihre Heimat beschreibt.

 

 

 

 

 

 

 

Angharad Price: Das Leben der Rebecca Jones

Übersetzt von Gregor Runge

dtv, 2014, 176 Seiten

(Walisisches Original 2002)