Michela Murgia - Drei Schalen

"Die Kleidungsstücke in den Bäumen regten sich wie unruhige Geister im Wind. ... Der gesamte Korkeichenhain des Ferienhofs, in dem sie das  Ab-schiedsessen zu Ehren ihrer Schwester veranstaltete, wirkte trotz der Mittags-stunde wie ein Geisterwald, durch den die leeren Hüllen der Frauenfiguren spukten, die die Verstorbene im Laufe ihres Lebens ausprobiert hatte."

 

Das Cover zeigt eine Szene aus der letzten der zwölf Erzählungen, die locker miteinander zusammenhängen. "Übergangszeit" ist ihr Titel und in einer solchen befinden sich alle Protagonist:innen des Buches.

Sie müssen mit Schicksalsschlägen zurecht kommen, oder mit Situationen, die große Herausforderungen darstellen. 

 

Wie mit der Information "Sie haben eine Zellneubildung an der Niere" umgehen? Oder mit diesem merkwürdigen Versuch des Arztes, zu trösten:

"`Sie haben mir erzählt, dass Sie Romane schreiben, eine wunderbare Arbeit, aber auch sehr schwierig. Keine andere Spezies ist dazu in der Lage, nur der Mensch. Können Sie noch andere Sprachen außer Italienisch?´ - `Englisch, Französisch, ein bisschen Spanisch ... und ich lerne gerade Koreanisch.´ - `Wäre es Ihnen lieber, nichts von all dem zu können und dafür niemals krank zu werden? Einzeller beispielsweise entwickeln keine Neoplasien, aber sie sprechen auch keine Sprachen. Amöben schreiben keine Bücher.´"

 

So tragisch die Situation ist, Michela Murgia erzählt sie mit Humor.

 

Man begegnet diesem Arzt wieder in der Erzählung  "Gesichtserkennung fehlgeschlagen", die in der Anfangszeit von Corona spielt. Wirken die Schutzvorkehrungen, die der Arzt trifft, zunächst noch sehr vernünftig, nehmen sie, nachdem sich sein kleiner Sohn trotz allem infiziert hat, neurotische Züge an.

 

Manche Geschichten sind miteinander verknüpft, wie "Übelkeit", in der eine Frau porträtiert wird, die, nachdem sie verlassen wurde, keine Nahrung mehr bei sich behalten kann. Es dauert lange, bis sie eine Strategie entwickelt, die es ihr ermöglicht, zu essen. Sprich, ihr Leben weiterzuleben.

In der Parallelgeschichte "Die Route wird neu berechnet" steht ihr Ex-Partner im Mittelpunkt. Er leidet ebenfalls an Liebeskummer, schafft es nicht mehr, Orte zu besuchen, die früher "gemeinsame Orte" waren. So streicht er "nach und nach ganze Teile Roms von der Landkarte seines Sozial-lebens". Er stellt fest: "Die wahre Falle war die Erinnerung, nicht die Liebe."

 

Nach einem existenzerschütternden Erlebnis sind alle Figuren gezwungen, die Route neu zu berechnen. 

Es gibt keine vorgezeichneten Wege mehr. Neue Routinen müssen gefunden, neue Bündnisse geschlossen werden.

 

Michela Murgia war selbst schwer erkrankt, als sie diese Erzählungen schrieb. Im Frühjahr 2023 machte sie ihre Erkrankung bekannt, im August desselben Jahres verstarb sie mit nur einundfünfzig Jahren in Rom.

 

Um so erstaunlicher, dass die Erzählungen weder von Wut noch Trauer erdrückt werden. Im Gegenteil. Die Personen, von der keine einen Namen trägt, lernen, mit der neuen Situation umzugehen.

 

Manchmal sieht das nach außen verrückt aus, wie in dem Fall einer Frau, die sich eine lebensgroße Pappfigur des koreani-schen Sängers und Tänzers Park Jimin ins Haus holt, als ihr Sohn auszieht. Jimin wird sie nicht verlassen, und außerdem kann sie sich sehr gut mit ihm unterhalten. Oder Videos anschauen. Er versteht sie besser als jede:r andere, warum sollte sie auf seine Gesellschaft verzichten? 

 

Es gibt kein richtig oder falsch, wenn sich ein tiefer Graben auftut. Irgendwie müssen die Geister gebannt werden. Michela Murgias Held:innen führen die Möglichkeiten eines Neuanfangs und die Spielräume des Umgangs mit Katastrophen vor. Und diese sind erstaunlich vielfältig. 

 

"Fantasie und Realität (können sich) mischen, bis daraus etwas Besonderes, etwas Unbenennbares" entsteht, konstatiert eine der Figuren.

In dieser Mischung aus Fantasie und Realität sind die Geschichten Michela Murgias verfasst. Sie konzentriert sich ganz auf ihre Figuren, ohne sie jedoch im luftleeren Raum agieren zu lassen. Beispielsweise umreißt sie mit einem einzigen Satz die "Familienverhältnisse" in der Ehe eines Professors mit seiner ehemaligen Studentin:

"Die Organisation dieses allwöchentlichen Rituals (ein großes Essen für mehrere Personen) kostete sie viel Kraft, und gerne hätte sie sich dafür eine Haushaltshilfe geholt, doch ihr Mann fand, er sei zu links, um sich gegen Bezahlung von jemandem bedienen zu lassen." !

Eingebettet in ihr Umfeld entwickelt Michela Murgia jede ihrer Personen zu etwas Besonderem, legt einen Kern in ihr Innerstes, das sie unverwechselbar macht. 

Und wie nebenbei macht sie damit den Leser:innen Mut.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Michela Murgia: Drei Schalen

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Verlag Klaus Wagenbach, 2024, 160 Seiten

(Originalausgabe 2023)