J.W. von Goethe - Wilhelm Meisters Wanderjahre

 

 

 Zu Goethe ist vielleicht alles schon gesagt worden, was es zu sagen gibt. Trotzdem kann ich´s nicht lassen und möchte auch noch etwas dazu beitragen.

 

Mein Lieblingsbuch sind die „Wanderjahre“, ganz besonders hat es mir eine Figur aus diesem großen Reigen von Personen angetan: Makarie.

 

Sie ist eine betagte Frau mit viel Erfahrung und Weitblick und kann als Gegenpol zu Faust gesehen werden. Meiner Ansicht nach repräsentiert sie Goethes Art zu denken auf sehr anschauliche Weise, doch was ist seine Denkweise?

 

Für mich ist das die „Anschauung“, eine Form der Annäherung, die tief eindringt und nicht an der Oberfläche haften bleibt.

Das reine Anschauen sucht in der Erscheinung das Wesen, in verwirrender Mannigfaltigkeit der Natur das Gesetzliche, im Vergänglichen das Unvergängliche, im ständigen Wandel das Dauernde. In jedem Lebewesen gibt es – so Goethes Ansicht – ein inneres Gesetz, auch „Konstante“ genannt, das sich immer gleich bleibt, auch wenn die Form der Erscheinung stark variiert.

Er geht bei seinen Naturbetrachtungen immer vom Ganzen ins Einzelne, er sucht die erkannten Merkmale einer Art oder Gattung in jedem Vertreter und so gelangt er zu einer Art „Urbild“. Das ist ganz konkret, da er es direkt vor sich sieht und zugleich ist es in seiner allgemeinsten Form abstrakt, da kein Lebewesen genau dieser Form entspricht, sie aber als Grundbau in sich trägt.

Goethe sucht nach dem Verbindenden und dem Besonderen, jedes einzelne betrachtete Stück führt ihn weiter auf seinem Weg, das Ganze zu erkennen und zu erfassen.

 

Auch der Mensch hat in seinen Augen eine Prägung, eine Konstante, eine Bestimmung.

Doch diese muss er erst einmal erkennen, um sie entfalten zu können und das ist nicht immer einfach. Oft geht er viele Irrwege und Kreise, doch da der Mensch eine Mittelstellung zwischen Himmel und Erde hat (er ist der Erde verhaftet aber geistig aufstrebend), führen ihn diese Irrwege in Form einer Spiralbewegung näher an sein Ziel: die volle geistige Entfaltung seiner Anlagen.

 

Dieses Spiralprinzip ist ein ganz Wesentliches in Goethes Denken: alles Lebendige wächst in einer Drehbewegung und nicht senkrecht, Pflanzen ganz konkret, Menschen in ihrer Entfaltung. Kein Lebewesen befindet sich im luftleeren Raum, ein jedes gedeiht in einer bestimmten Umgebung, die seine Entwicklung entscheidend beeinflusst, die Entfaltung befördert oder behindert. (Das war damals ein absolut neuer Gedanke.)

So ist ein Jeder eine besondere Ausprägung einer ganz bestimmten Form, in seiner Individualität leben die unveränderlichen Gesetze seiner Art. Und es ist ganz klassisch gedacht eine Pflicht, die Anlagen zur Entfaltung zu bringen, nicht nachzulassen im Bemühen um Fortschritt, der letzten Endes ein Zu-sich-kommen ist.

 

„Wilhelm Meisters Wanderjahre“ ist ein Text, der aus vielen Erzählungen, die von einer Romanhandlung umwoben ist, komponiert wurde. Die Romanhandlung wird beherrscht von der „Turmgesellschaft“, die es sich zum Ziel gesetzt hat, einzelne Personen so zu führen, dass sie nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden. In den Textabschnitten, die mit dem „Turm“ zu tun haben, geht es um die Anliegen der großen Welt, um gesellschaftspolitische, wirtschaftliche und zukunftsplanerische Fragen.

Zwischenmenschliche und persönliche Beziehungen und Fragestellungen sind die Hauptthemen der Novellen, die teilweise mit der Romanhandlung verbunden sind.

 

Jede Person des Romans zeichnet eine eigene Daseinsform, wobei jede ein ganz charakteristisches Bild zeigt. Auf das Wesentlichste beschränkt lassen sie sich in zwei Gruppen einteilen: der dem Schicksal verhafteten Form des Lebens steht die moderne, von Planung und Entschluss getragene gegenüber. Die Personen des Turms gehören von Anfang an der modernen Welt an, Wilhelm und einige andere wachsen in diese hinein, Mignon und dem Harfner gelingen der Übergang nicht.

 

Aus diesem Reigen fällt eine Figur heraus: Makarie.

 

Äußerlich gehört sie dem Umkreis des Turmes an, in gewissen Punkten vertritt sie auch dessen Maximen. Ihre innere Welt ist jedoch gänzlich verschieden von der des Turmes: sie ist weniger durch ihre Position in der gesellschaftlichen Welt definiert, als durch ihre Teilhabe am Weltall. Sie kennt den Makrokosmos nicht nur sehr gut, sie bewegt sich selbst innerhalb der Sternenwelt, auf einer Umlaufbahn, die, von der Erde aus betrachtet, jenseits des Mondes liegt.

 

Sie stellt die höchste Form der Steigerung dar und ist Symbol für die Möglichkeit des Menschen. Durch ihre intuitive Kraft verfügt sie über genaue Kenntnisse des Weltalls und stellt dadurch einen Gegenentwurf zum berechnenden Wissenschaftler dar, der zwar durch mühevoller Arbeit viel erfährt, aber niemals so weit kommen kann wie sie.

 

Ihr Zugehörigkeit zum Sonnensystem und ihre Bewegung darin sind Makarie angeboren, es zeichnet sie aus, dass sie diese Anlage nicht verkümmern ließ, sondern sie zur Vollkommenheit ausbildete. Sie hat sich nicht der Forderung der Zeit nach Einseitigkeit (Spezialisierung) unterworfen, sie lebt in der Schau.

 

Obwohl die „Wanderjahre“ ein Roman der Entsagenden, Tätigen und Einseitigen ist, sind die beiden Makarien-Kapitel die Höhepunkte. Sie ist auch der nicht sofort sichtbare Mittelpunkt des Romans, da sich alle Figuren um sie drehen – rein äußerlich ist sie diejenige, bei der die Fäden zusammenlaufen, die sie auch immer wieder entwirrt.

Indem die einzelnen Familienmitglieder um sie kreisen, wird sie selbst zu einer Sonne, die lenkt und ordnet ohne zu befehlen oder zu herrschen. Zum inneren Mittelpunkt wird sie dadurch, dass in ihr der dichterische Traum der höchsten Steigerung der Schau und des Lebens Wirklichkeit wird.

 

 

Vielleicht lohnt es sich, den Roman einmal unter diesem Aspekt zu lesen.

 

Makarie ist eine sanfte Person, in allem das Gegenteil Fausts. Goethe schrieb parallel an „Faust II“ und den „Wanderjahren“ - dem großartigen Faust wurde stets sehr viel mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht als dieser alten, im Rollstuhl sitzenden Dame.

Aber sehr viel von Goethes Denken, vor allem des „Wie“ und nicht nur das „Was“ steckt in ihr und es lohnt sich unbedingt, dieses Werk Goethes zu lesen.

Gerade heute, wo man sieht, wohin sich die moderne Welt entwickelt hat, Goethe kannte ja nur die Anfänge davon.

 

 

 

 

 

 

 

J.W. von Goethe:

Wilhelm Meisters Wanderjahre

Insel Verlag, 2006, 522 Seiten

(Originalausgabe 1829)