Marga Berck - Sommer in Lesmona

 

 

Die achtzehnjährige Marga, ein Kind aus allerbestem Hanseatenhaus, offen, frech, herzlich und hübsch, erlebt ihre erste Liebe. Sie hatte schon einige Verehrer, meinte aber, sie könne nicht lieben. Sie konnte jedoch nur diese nicht lieben.

Als sie Percy begegnet, einem eleganten, unglaublich gut aussehenden jungen Mann, musikalisch und poetisch, nur zwei Jahre älter als Marga, ist die Liebe plötzlich keine Frage oder Sehnsucht mehr, sie ist da, überwältigend.

 

Das Besondere und Einzigartige an diesem Buch ist, dass es die Briefe versammelt, die Marga zwischen dem

30.Juni 1893 und dem 15.März 1896 an ihre Freundin Bertha Elking, verheiratete Deneken, schrieb. Die beiden Freundinnen waren wie Schwestern, sie vertrauten einander alles an, was die Herzen bewegte. Marga schreibt ihr so offen und ehrlich, als schriebe sie in ein geheimes Tagebuch.

Die Briefe waren weder für die Öffentlichkeit verfasst - die Autorin hielt sie bis zum Jahr 1940 unter Verschluss, vernichtete auch sehr viele - noch wurden sie später korrigiert. Lediglich einige Namen wurden aus Gründen der Diskretion von den Herausgebern verändert, alles andere lesen wir so, wie Marga es schrieb.

 

Und damit ist das Buch nicht "nur" eine Liebesgeschichte,

es ist ein authentischer, ganz direkter und unverstellter Einblick in das Leben des gehobenen Bürgertums. Nicht nach Jahrzehnten aus dem Rückblick erzählt, wie z.B. Goethes Dichtung und Wahrheit, auch nicht als Roman konzipiert wie Manns Buddenbrooks. Marga erzählt ihrer geliebten Bertha meist in der Nacht, was sie am Tage erlebte. Es ist für sie selbst eine Art nochmaliges Erleben, eineVerfestigung durch Wiederholung - und die innere Notwendigkeit, ihrer Gefühle Herr zu werden, indem sie sie teilt.

 

Der seltene Glücksfall ist außerdem der, dass Marga ganz natürlich so lebendig schreibt, dass sie mit ihren Briefen ein Kunstwerk geschaffen hat. Nicht nur die Hauptpersonen, auch die Nebenfiguren charakterisiert sie mit wenigen Worten sehr treffend, mit ihren Überlegungen zu ihrem Leben, den vielen Reisen, den Beschäftigungen, den Versuchen, auszubrechen, der Angst vor einem Skandal, aber auch die herzliche Liebe zu Linsche, ihrem Dienstmädchen, öffnet sie ihr eigenes Inneres und die Welt der "höheren Tochter". 

 

In den knapp drei Jahren, die die Briefe umfassen, reist Marga von Bremen aus nach München, Berlin, Florenz, Rom, Wiesbaden, Kreuth, London und Dresden.

Sie fährt nach Hannover, holt die Eltern in Bad Wildungen oder Baden-Baden ab: Mobilität ist keine Erfindung des

20. Jahrhunderts.

Man verbrachte den Sommer in den Bergen, besuchte die großen Museen in den wichtigen Städten: am wohlsten fühlte sich Marga allerdings auf dem Land, dort konnte sie der Dauerbewachung am ehesten entgehen (z.B. beim Ausreiten), in den Städten beobachtet sie viel lieber das Volk, besucht lieber Marktplätze als Museen.  

 

Die Begegnung mit Percy erlebt sie auf dem Landgut ihres Onkels in Lesmona bei Bremen. Er soll sie "bevatern" solange die Eltern auf Reisen sind. Der liebe gute Onkel Herbert merkt erst, wie es um die jungen Leute steht, als es für Percy schon fast Zeit ist, nach London zurückzukehren. 

 

Dass ihre Liebe keine Chance haben würde, war sowohl Marga als auch Percy klar. Percy ist zu jung, noch nicht etabliert, sie verabschieden sich am Ende des Sommers von einander und von einem schönen Traum.

Unter der Maßgabe, dass Marga Percy nicht mehr schreibt und auch keine Briefe von ihm empfängt, verspricht Onkel Herbert Marga, ihren Eltern nichts von der Liebe der beiden zu erzählen.

So bleiben diese ahnungslos, wundern sich über die Andersartigkeit ihrer Tochter, auch darüber, dass sie sich so überraschend für Dr. Retberg, einen Kunsthistoriker, entschieden hat, wundern sich darüber, dass sie plötzlich nicht mehr nach London will, was immer ihr Wunsch gewesen war.

 

Marga hätte liebend gerne Percy geheiratet, doch sie schreckt vor der fünfjährigen Wartezeit zurück: so lange hätte er gebraucht, sich einen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten. Ein jetziges Anhalten beim Vater ist von vorn herein aussichtslos. 

Unter allergrößten Schmerzen trennen die beiden Liebenden sich nach diesem Sommer in Lesmona, keine drei Monate später verlobt sich Marga auf eigenen Wunsch hin mit besagtem Dr. Retberg (in Wirklichkeit handelt es sich um Gustav Pauli, dem späteren Direktor der Bremer und der Hamburger Kunsthalle).

Warum hat sie das getan? Aus einer plötzlichen Schwäche heraus, aus einer dunkel gefühlten Macht und Anziehungskraft, schreibt sie, vor allem aber aus Angst vor einem Skandal und aus Angst, die lange Wartezeit nicht durchzuhalten.

 

Immer wieder will sie die Verlobung doch noch lösen, Percy bietet ihr an, bei Freunden von ihm in London zu leben, sie könnten heiraten und ein bescheidenes Leben führen.

Kurz vor ihrer Hochzeit erhält sie noch einen herzzerreißenden Brief  von ihm, dazu den Ring seiner Mutter.

Bertha bittet die Freundin inständig, den Kopf nicht zu verlieren. Erinnert sie daran, sie selbst hätte die Verlobung mit Dr. Retberg gewollt.

Marga beschließt, ihrem Leben ein Ende zu machen, sie sieht keinen anderen Ausweg mehr. Doch da kommt plötzlich Max, der gute Freund aus Kindertagen und nimmt sie fort aus Nizza, jenem Ort der Liebe im Park von Lesmona. 

 

Das ist dann auch für den Leser wirklich herzzerreißend - wie gut, dass Marga ihrer Freundin Bertha alles schreiben kann und dadurch über ihr Unglück hinwegkommt.

Man mag sich nicht vorstellen, welch ein Schock Berthas Tod, zwei Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes, wenige Tage vor Margas Hochzeit mit Dr. Retberg für sie bedeutete. 

Spätestens an dieser Stelle endet nicht nur der "Sommer in Lesmona", sondern auch die Backfischzeit Margas.

 

 

 

 

 

Marga Berck: Sommer in Lesmona

Briefwechsel 1893-96, Erstveröffentlichung 1951

Rowohlt Taschenbuch 2005, 187 Seiten