Gert Hofmann - Die kleine Stechardin

 

 

Dieses feine Buch ist eine Annäherung an Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), dem ersten deutschen Experimentalphysiker und Aphoristiker.

Lichtenberg war das 17. Kind einer evangelischen Pfarrersfamilie, zur Universität konnte er aber aufgrund eines Stipendiums trotzdem gehen.

Er studierte Mathematik, Naturgeschichte und Astronomie in der kleinen Universitätsstadt Göttingen.

Sehr wichtig und entscheidend für seine Entwicklung waren zwei Reisen nach England, die erste 1770, die zweite in den Jahren 1774/75. Dort lernte er führende Wissenschaftler wie James Watt und weitgereiste Männer wie Georg Forster kennen.

 

Ab 1776 hielt er in Göttingen Vorlesungen und die müssen sehr außergewöhnlich gewesen sein. Es waren nicht die altbekannten trockenen Vorträge, er experimentierte mit allem möglichen und demonstrierte seinen Studenten Schweinsblasen, die gasgefüllt waren und die Ballonfahrt vorwegnahmen oder führte mit fliegenden Drachen die Gewitterelekrizität vor.

Er betonte die Wichtigkeit des Experiments und war damit ein Wegbereiter der modernen Naturwissenschaft, die sich nicht mehr nur in Theorie erging, sondern praktische Nachweise liefern wollte.

Astronomie, Meteorologie, Chemie und Physik erhielten ganz entscheidende Impulse zusätzlich zu den Entdeckungen, die Lichtenberg machte.

 

Er schrieb ein Standardwerk der Physik, das als Schulbuch im gesamten deutschsprachigen Raum verwendet wurde. 

Und darüber hinaus schrieb er für diverse Zeitungen und Zeitschriften Essays, Literaturkritiken, Polemiken, ein wichtiges Portrait Londons als sich entwickelnde Großstadt und eben jene berühmte Aphorismensammlung.

Die schrieb er in sein "Sudelbuch", das er immer bei sich hatte, um ja keine Bemerkung zu vergessen und kein Wort zu verlieren, das ihm treffend erschien.

 

Ein Tausendsassa also, der sich auf allen Gebieten des Geistes tummelte, kein Scheuklappen-Gelehrter, sondern einer, der sich den Respekt von vielen Fachmännern unterschiedlicher Gebiete erworben hat. Er war immer auf der Suche, immer am Nachdenken und experimentellen Spielen, am Ordnen, Schreiben, Verwerfen, Neudenken.

 

Und das, obwohl er von sehr schlechter Gesundheit war. Er litt unter einer Wirbelsäulenverkrümmung, hatte einen Buckel bei nicht einmal 1,50 Meter Körpergröße, und dieser Buckel verursachte ihm häufige Atemnot, die ihn zur Bettruhe zwang.

In den letzten 10 Jahren seines Lebens hatte er oft Asthmaanfälle, er konnte nicht mehr so arbeiten, wie er es gerne wollte.

Er war also kein schöner Mann und mit 35 Jahren hatte er immer noch keine Frau. Und nach einer solchen sehnte er sich sehr.

 

An dieser Stelle setzt der Roman "Die kleine Stechardin" ein.  Er zeigt den Menschen Lichtenberg, der natürlich vom Gelehrten nicht zu trennen ist, aber in diesem Roman lernen wir diesen quirligen Mann von seiner privaten Seite kennen.

 

Er sieht eines Tages die 12jährige Maria Dorothea Stechardin, ein hübsches Kind, und bittet ihre Eltern, sie zu ihm kommen zu lassen. Als Gesellschafterin, als Hilfe für die Haushälterin, als "Hausmamsell".

Natürlich hat er sich in Maria verliebt, aber er möchte sich erst mit ihr befreunden, bevor er ihr dies gesteht.

Er möchte sie nicht erschrecken und so dauert es lange, bis er einmal ihre Hand berührt. Zuvor haben sie schon oft zusammen gesessen, er erklärte ihr irgend ein Problem, bringt ihr auch das Lesen und Schreiben bei, sie ist neugiertig, nimmt an seiner Wissenschaft teil. Sie ist gerne bei ihm, wundert sich über wenig, schaut ihm zu und sein Buckel stört sie gar nicht. 

Sie hält sich immer verborgen, denn, wie kann es anders sein, das Universitätsnest Göttingen zerreißt sich das Maul über dieses Verhältnis. Der nicht mehr junge, hässliche, bucklige Gelehrte und das Kind.

Seine Kollegen hören auf ihn zu besuchen (später kommen sie dann von Neugierde getrieben doch wieder), er geht nicht mehr so gerne aus, ist lieber bei der Stechardin.

Eines Tages dann zeigt er ihr seine Liebe, sie geht mit ihm in sein Himmelbett und bleibt dort.

 

Mehrere Jahre leben sie ohne Trauschein als Paar zusammen, für beide scheint es eine beglückende Zeit gewesen zu sein. Sehr eng beieinander, nicht nur im Bett, trotzdem arbeitsintensiv, immer lustig.

Sie inspiriert ihn mit ihren Fragen, er kleidet sich nun in bunte "Röckchen", um ihr zu gefallen, sie träumen von einer gemeinsamen Reise nach Italien.

Da stirbt die kleine Stechardin ganz plötzlich mit nur 17 Jahren an einem Fieber, Lichtenberg fällt in eine tiefe Krise.

Der Roman endet damit, dass eine Pflegerin kommt, die ihm in dieser schweren Zeit beisteht, später wird sie ihm acht Kinder schenken...

 

Man muss weder ein Liebhaber der Physik sein, noch von biographischen Romanen, um dieses Buch zu mögen. Hofmann zeigt den großen Gelehrten so lebendig und ohne Pathos, dass man ihn sofort sympathisch findet. Gleich zu Anfang des Buches ersteht eine Gestalt vor Augen, die man unbedingt näher kennen lernen möchte. Der Ton des Buches nimmt die feine Ironie der Lichtenbergschen Schriften auf, Hofmann ist ein tiefer Kenner der Gedanken des Schriftstellers und Naturwissenschaftlers. 

 

"In seiner Gotmarstraßenhöhle saß sie wieder neben ihm. Er hatte die Perücke auf. Er konnte durch ihr dünnes Röckchen ihre Wärme spüren. Ob sie seine auch spüren wollte? 

Mit seinen leicht gekrümmten gichtigen Fingern konnte er Feder und Papier immer schön erreichen. Denn er würde gleich wieder was schreiben. Er wusste bloß noch nicht was."

 

In diesen paar Zeilen passiert eigentlich nichts, aber es wird viel erzählt, ganz unaufdringlich. 

Ganz nebenbei wird die Atmosphäre des bürgerlichen Universitätslebens des 18. Jahrhunderts gezeichnet, und es wird klar, wie viele grundlegende Entdeckungen aus dieser Zeit des Aufbruchs stammen. Und mit welch unglaublichen Mitteln damals gearbeitet wurde.

 

Es ist ein wunderbares Buch für Leser, die gerne ganz und gar in einer anderen Welt abtauchen und die den feinen, leisen Ton lieben.

 

 

 

 

 

 

 

Gert Hofmann: Die kleine Stechardin

 dtv, 1999

 (Originalausgabe 1994)