Gianni Rodari - Gutenachtgeschichten am Telefon

 

 

Ein Kinderbuchklassiker, an dem nicht nur Kinder ab fünf Jahren ihre Freude haben, sind die „Gutenachtgeschichten am Telefon“. Doch weshalb am Telefon?

 

In einer kleinen Vorbemerkung schreibt der Autor, dass ein gewisser Signor Bianchi beruflich viel unterwegs war, nur am Wochenende konnte er bei seiner Familie sein. Damit die kleine Tochter auch an den anderen Tagen in den Genuss einer Gutenachtgeschichte kam, rief er sie jeden Abend um 21 Uhr an, um ihr in wenigen Minuten eine solche zu erzählen.

Veröffentlicht wurde die Geschichtensammlung 1960 – zu dieser Zeit war telefonieren wirklich noch teuer, man musste sich kurz fassen - auch Signor Bianchi.

So sind die „Einschlafhilfen“ manchmal weniger als eine Seite lang, selten sind es mehr als zwei Seiten. Aber was in diesen kurzen Texten alles steckt!

 

Rodari (1920-1980) war schon mit 17 Jahren Lehrer an einer Grundschule, später studierte er und war als Journalist tätig. 1944 hatte er sich der Resistenza angeschlossen, nach dem Krieg war er in der Kommunistischen Partei aktiv und schrieb für die Tageszeitung „L´Unita“.

Hier fing er an, auch für Kinder zu schreiben, schließlich übernahm der die Herausgabe einer wöchentlich erscheinenden Kinderzeitschrift.  Ende der 50er Jahre war Rodari für das Feuilleton der „L´Unita“ verantwortlich, danach als Journalist für Politik bei „Paese Sera“ tätig - stets schrieb er weiterhin für Kinder.

Ein Höhepunkt in seiner Karriere war die Verleihung des Hans-Christian-Andersen-Preises im Jahr 1970, die angesehenste Auszeichnung für Kinderbuchautoren, die vor ihm schon die in Deutschland viel bekannteren Schriftsteller James Krüss, Astrid Lindgren oder Erich Kästner bekommen hatten.

 

Voraussetzung für seine schriftstellerische Arbeit war für Rodari die genaue Kenntnis der Lebenswelt seiner Leser, er wollte ihre ganz alltägliche Umgebung kennen lernen, ihre Wünsche, Träume und Ängste. Und er nahm seine jungen Leser als profunde Kritiker ernst. So ging er z.B. häufig in Schulen, erzählte eine seiner Geschichten, beobachtete genau die Reaktionen der Kinder und bemerkte so, wo eine Geschichte Schwächen oder Längen hatte und veränderte sie dann noch einmal. Er gab auch anderen Kinderbuchautoren den Ratschlag, weniger Klassiker zu lesen und mehr fern zu sehen, denn dort (das zeichnete sich von Anfang an ab) ließen sich Entwicklungen erkennen oder einfach das sehen, was die Kinder beschäftigte. Erkenntnisse der  Soziologie oder Psychologie waren für ihn ebenso Grundvoraussetzungen gelungener Kinderliteratur – und neben all dem verfügte Rodari über ganz ganz viel Phantasie.

Und er forderte auch für Kinder Räume, in welchen sie ihr phantastisches Potenzial entfalten können, ausprobieren, kreativ sein, wählen können (wir befinden uns in den 50er und 60er Jahren, vieles, was heute selbstverständlich erscheint, war damals fast undenkbar!).

 

Rodari wird dem Zweig der „Phantastischen Literatur“ zugeordnet, manchmal wird er mit Calvino verglichen, mit dem ihn auch eine lange Freundschaft verband. Diese Art der Literatur hat jedoch mit „Fantasy“ gar nichts zu tun, hier werden keine Schlachten geschlagen, keine Endkämpfe ausgetragen, die Geschichten Rodaris sind moderne Märchen, angepasst an die neuen Zeiten, an das tägliche Leben im Nachkriegsitalien.

 

In seinen Geschichten werden alte Ordnungen aufgelöst, Autoritäten in Frage gestellt, sprachliche Doppeldeutigkeiten oder Missverständnisse durchgespielt, es wird für Toleranz plädiert und für Offenheit dem Fremden gegenüber und natürlich gelten in vielen Fällen die Gesetze der Physik nicht mehr, wie das so ist in Märchen.

 

Und weil die Themen heute noch wichtig sind, die Sprache nach wie vor ansprechend, die Einfälle köstlich und die Protagonisten überaus liebenswert, sind die Geschichten weder angestaubt noch veraltet. Es macht einfach nur Spaß, sie zu lesen, und zwar den Erwachsenen genau so wie den Kindern. Und wenn das Buch noch schön illustriert ist, wie die Ausgabe im Fischer Verlag, kann man nicht bis 21 Uhr warten, um dann nur eine Geschichte zu lesen.

 

Ganz prima ist auch die italienische Ausgabe in der Reihe „Fremdsprachentexte“ im Reclam Verlag. Auf jeder Seite sind unten Übersetzungen einiger Wörter, man muss also nicht so oft das Wörterbuch bemühen, was das Lesen wesentlich angenehmer macht. Für Italienischlernende ist das eine schöne Abwechslung zum normalen Lehrbuch.

 

Nun möchte ich aber noch wenigstens eine kleine Kostprobe geben und den „Fischer von Cefalù“ nacherzählen:

 

Als ein Fischer sein Netz einholte, hörte er eine Stimme. Er bemerkte, dass sie aus dem Inneren eines Fisches kam und darum bat, nicht wieder ins Meer zurück geworfen zu werden. Er öffnete den Fisch und fand ein klitzekleines Kind, winzig, aber mit allem dran, auch zwei kleinen Flossen am Rücken.

Wer bist du? - Ich bin das Meereskind. - Und was willst du von mir? - Wenn du mich mitnimmst, bringe ich dir Glück!

Der Fischer hatte nun schon genug Kinder durchzufüttern, ein schönes Glück, noch eines ernähren zu müssen, dachte er. Aber er nahm es mit, legte es mit einem Hemdchen, das die Flossen verbarg, bekleidet neben sein jüngstes Kind. Es war so klein, dass es nicht einmal ein halbes Kissen bedeckte, aber sein Hunger war unglaublich, ein wahrer Schrecken: es aß mehr als die sieben Kinder des Fischers zusammen. Wirklich ein schönes Glück, seufzte der Fischer.

Am nächsten Tag forderte das Kind den Fischer auf, es mit hinaus aufs Meer zu nehmen und genau dort das Netz auszuwerfen, wo es bestimmte. Dies tat er und er fischte große Mengen, so viel, dass er bald ein zweites, ein drittes und schließlich viele Boote anschaffen musste, einer seiner Söhne wurde sogar Buchhalter, um das ganze Finanzwesen zu überblicken.

Er wurde steinreich und vergaß, wie sehr er selbst unter seiner Armut gelitten hatte. Seinen Fischern, die fragten, wie sie ihre Kinder von dem geringen Lohn ernähren sollten, riet er, ihnen Steine zu geben.

Das Meereskind, das alles hörte und sah, sagte: Pass auf, das was geworden ist, kann auch wieder zu Nichts werden.

Da nahm der Fischer das Kind, steckte es in eine Muschel, verschloss sie sorgfältig und warf sie ins Meer.

Der letzte Satz der Geschichte ist eine Frage an die Leser/Zuhörer:

Wer weiß, wie viel Zeit vergehen wird, bis es sich wieder befreien kann. Was würdet ihr an seiner Stelle machen?

 

Das Drama endet also nicht hier, es will weitergedacht werden, eine solche Ungerechtigkeit kann man nicht einfach hinnehmen. Dieser Fischer kann nicht so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

 

DerText lässt sich einfach nur als schöne Geschichte lesen oder als Parabel für viele Probleme, mit welchen wir heute immer noch konfrontiert sind.

Kinder werden ihn natürlich anders verstehen als Erwachsene, aber genau das macht die Faszination aus: jeder liest das ihm im Moment Gemäße heraus, jeder wird seine Freude daran haben.

Und an all den anderen Gutenachtgeschichten auch. Versprochen!

 

 

 

 

 

 

 

Gianni Rodari:

Gutenachtgeschichten am Telefon

Übersetzt von Ulrike Schimming

Fischer Verlag, 2012, 203 Seiten

Favole al telefono. Reclam, 2008

(Italienische Originalausgabe 1960)