Paul Auster - Mr. Vertigo

 

 

 „Mit zwölf Jahren bin ich zum ersten Mal über Wasser gegangen.“

 

Einen fulminanteren Einstieg in einen Roman kann man sich kaum vorstellen, dabei klingt die Aussage so schlicht und sachlich, dass sie nicht einmal unglaubwürdig wirkt.

Gesagt wurde dieser Satz von

„Walt dem Wunderknaben“: unter diesem Namen trat Walter Rawley, ein Waisenkind aus St. Louis, gute 2 Jahre lang als Levitator auf.

 

Das erste Mal, als er sich in die Luft erhob und mit seinem Körper die Schwerkraft besiegte, fand genau an dem Tag statt, an dem Charles Lindbergh erstmals den Atlantik überflog, also 1927. Zufall?

 

Bevor Walt dies tun konnte, lagen drei extrem harte Jahr hinter ihm, denn Fliegen lernt man nicht von heute auf morgen. Beigebracht hat es ihm Meister Jehudi, ein ungarisch stämmiger Jude, der Walt in den Straßen von

St. Louis aufgelesen hat. Sofort hatte er erkannt, dass Walt „die Gabe“ hat und da es nicht schwierig war, den neunjährigen Walt seinem Onkel Slim „abzunehmen“, nahm er ihn mit auf eine Farm in einer gottverlassenen Gegend.

Dort lebte Meister Jehudi bereits mit Mutter Sue, einer Indianerin und Äsop, einem verkrüppelten schwarzen Jungen, zusammen. Liebe Menschen, die später vom

Ku-Klux-Klan ermordet werden.

Walt war anfangs entsetzt über diese Gesellschaft und auch über den öden Ort, er unternahm mehrere Fluchtversuche, kehrte aber immer wieder zurück. Nicht wirklich freiwillig, denn auf mysteriöse Art war Meister Jehudi immer schon

vor ihm da, wenn Walt irgendwo hin abgehauen war:

der Meister erwartete ihn bereits, um ihn wieder nach Hause zu bringen. Zufall?

 

In 33 Stufen führte Meister Jehudi Walt in die Kunst der Levitation ein und das war ein grausames Unterfangen.

Im Grunde musste zuerst Walts Persönlichkeit vernichtet werden, bevor ein Künstler aus ihm werden konnte. Er musste so entsetzliche Dinge wie lebendig begraben sein, eine Nacht in einem Feuerkreis sitzen, sich ein Fingerglied abschneiden (also ganz konkret etwas von sich hergeben) und anderes mehr durchstehen, bevor er zum ersten Mal vom Boden abheben konnte.

Meister Jehudi gab ihm alle diese Aufgaben, wurde von Walt aber nie als Folterknecht gesehen, sondern immer als Meister, dem er dienen wollte, denn der Meister glaubte unerschütterlich an ihn. Und der Erfolg gab ihnen Recht.

 

Am Beginn seiner Karriere trat Walt bei Dorffesten auf, auf Jahrmärkten, kleineren Veranstaltungen. Er hatte schon einen gewissen Berühmtheitsgrad, als er von seinem Onkel Slim entführt wurde, der wollte auch seinen Nutzen aus dem finanziellen Erfolg des Neffen ziehen. Nach vielen Tagen in Gefangenschaft konnte Walt sich selbst befreien, und war nun vollends in allen Zeitungen: er war zum Star geworden.

Seine Auftritte hatte er nun in riesigen Hallen vor tausenden Zuschauern, „Walt der Wunderknabe“ war geboren. Er feilte an seinen Darbietungen, arbeitete hart für den Erfolg und genoss ihn sehr.

 

Im Alter von 14 veränderte sich alles: mit Einsetzen der Pubertät verlor Walt zwar nicht die Fähigkeit zu fliegen,

aber jedesmal wenn er wieder den Boden berührte, prasselten unerträgliche Kopfschmerzen auf ihn nieder.

Er konnte seine Kunst nicht mehr ausüben.

 

Meister Jehudi und Walt beschlossen, nach Hollywood zu fahren, Walt sollte dort eine neue Karriere beim Film beginnen. Die Reise endete für Meister Jehudi tödlich: bei einem Überfall durch Slim und seine Schergen (sie hatten es auf die Kasse abgesehen) wurde er so schwer verletzt, dass er sich selbst erschoss, er sah keine Chance zu überleben.

 

Walt verfolgte darauf hin nur noch den Plan, Slim zur Strecke zu bringen, was ihm auch gelang. Er wurde in der Halbwelt tätig, verlor mehrfach alles, schlug sich irgendwie durch, heiratete, lebte immerhin über 20 Jahre ganz glücklich mit seiner Frau. Nachdem sie verstorben war, trieb er dann wieder durchs Land. Bis er in die alte Gegend zurück kam, wo er noch einmal Wurzeln schlug und der Gefährte von Meister Jehudis ehemaliger Geliebten wurde. Mit Mrs. Witherspoon schließt sich der Kreis: nach ihrem Tod setzt Walt sich hin und schreibt seine Geschichte auf.

 

Der Roman wird gerne als Gleichnis für den ökonomischen Aufstieg und Zerfall Amerikas, als ein Durchleuchten der Ideale des Landes gesehen. Das ist er sicher auch.

Für mich ist er aber in erster Linie ein Künstlerroman:

Walt ist kein Illusionist, er arbeitet nicht mit Seilen und Tricks.

Er hat harte, schmerzhafte Arbeit auf sich genommen, um seine Techniken zu erlernen. Er gibt bei wirklich jedem Auftritt sein Bestes, andernfalls würde er abstürzen und das könnte seinen Tod bedeuten. Das, was so leicht aussieht, ist eine schwierige Angelegenheit, schließlich muss Walt unmenschliches vollbringen.

Doch nur so bezaubert er die Menschen mit seiner Kunst.

Für sie lebt er: für die Zuschauer und für die Kunst.

 

Die Zeichnung der Personen, ihre Redeweise, ihre Sicht auf das Land und ihr Leben sind sehr lebendig und individuell.

Ich würde den Roman nicht unbedingt spannend nennen, aber er ist auch keineswegs langatmig oder theoretisch. Er illustriert auf sehr anschauliche Weise, wie allumfassend die Kunst ist. Wie Gabe, Arbeit, Ausdauer, der Glaube an sich selbst und auch das Quentchen Zufall zusammenkommen müssen, damit Außerordentliches entsteht.

 

 

 

 

 

Paul Auster: Mr. Vertigo

aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz

Rowohlt Taschenbuch, 2007, 318 Seiten

(Amerik. Originalausgabe 1996)