Anthony McCarten - funny girl

 

 

Azime kommt zu ihrem neuen Leben wie die Jungfrau zum Kind. Und dabei wollte ihre Mutter die Zwanzigjährige doch endlich verheiraten. Zwar lebt die kurdische Familie seit vielen Jahren in London - zu Hause wird sogar Englisch gesprochen - aber die Traditionen werden weiter gepflegt. Die fünfköpfige Familie ist fester Teil der kurdischen Gemeinde, der Vater betreibt ein Möbelgeschäft, in dem ausschließlich "Bagdader Barock" verkauft wird, wie Azime diesen Stil nennt und in dem Azime unentgeltlich arbeitet. Ihre beiden jüngeren Geschwister (ein Junge von sechzehn, ein Mädchen von neun Jahren) gehen noch zur Schule.

 

Eines Abends begleitet Azime einen Freund zum Comedy-Kurs. Dieser Freund Deniz ist ein unwiderstehlicher Optimist, ein Stehaufmännchen, einer mit einem ganz großen Herzen, der seiner Familie den Rücken gekehrt hat und selbständig leben will. Nur: er ist als Comedian nicht gerade ein Knaller.

Dafür erklärt er sich sofort zum Manager Azimes, als diese sich einmal auf der Bühne versucht und Talent zeigt.

Azime nimmt sich die Ratschläge der Kursleiterin Kirsten zu Herzen: unverwechselbar sein, aus dem eigenen Leben schöpfen.

Aus diesen Gründen, und weil sie unerkannt auftreten will, besorgt sich Azime eine Burka. Diese trägt sie sonst nicht, aber auf der Bühne ist sie mehr als ein Kostüm.

 

Azime trifft einen Nerv: schon bei ihrem vierten Auftritt steht sie vor 15ooo Menschen in einer riesigen Veranstaltungsarena. Sie weiß kaum wie ihr geschieht.

Eine muslimische junge Frau, die als Comedian mit Burka die Bühne betritt ist eine Weltneuheit!

 

So neu, schockierend und provozierend, dass viele Menschen nicht damit zurecht kommen. Azime wird angegriffen, per Internet und Post bekommt sie Morddrohungen, ihre Familie stellt sich komplett gegen sie. 

 

Bis der Vater die auf dem Firmencomputer gespeicherte Datei "Couchgarnituren" öffnet und dort Azimes Ideen und Textentwürfe findet.

Er kann nicht anders, er muss lachen und das, obwohl er selbst manchmal Gegenstand eines Witzes ist.

So bröckelt langsam die Mauer der Ablehnung innerhalb der Familie, am Schluss siegt sogar der Stolz auf diese unglaubliche Tochter.

 

Der Weg dahin ist allerdings mit vielen Schmerzen, mit Zweifeln und Zurückrudern belegt. Azime weiß nur eines die ganze Zeit mit Sicherheit: sie wird, will und kann ihren Mund nicht halten. Sie will ein eigenständiges Leben.

Sie hat etwas zu sagen und sie kann Menschen zum Lachen bringen.

 

Und darum geht es in diesem Roman, der die Emanzipationsgeschichte zwischen zwei Kulturen ganz wunderbar erzählt außerdem und grundsätzlich: um das Lachen.

Darum, wie ein guter Witz funktioniert und was er bewirkt: er "verwandelt uns aus dem Stand in eine Familie." Und dass McCarten kein trockener Humortheoretiker ist, hat er in all seinen Romanen gezeigt. Wie wenige andere Autoren schafft er es immer wieder, eine sehr ernsthafte Geschichte in eine sehr lustige zu verwandeln, ohne dadurch die Ernsthaftigkeit preiszugeben. 

 

So ist das "tote Mädchen", eine ehemalige Mitschülerin Azimes, die aus dem achten Stockwerk "gefallen" ist, eine Person, die immer wieder auftaucht. Sie hat keinen Namen, es könnte jede sein. Die Frage, ob es ein Ehrenmord, Selbstmord oder ein Unfall war, zieht sich durch das ganze Buch. Azime forscht nach, entdeckt Abgründe an Betrug und Selbstbetrug.

Und diesem Betrug stellt sie die Redefreiheit gegenüber.

Jenes Menschenrecht, mit dem alle Kulturen ihre Schwierigkeiten haben, nicht nur die muslimisch geprägten.

 

"Tatsache ist wohl eher, uns allen macht die Redefreiheit eine Heidenangst. Warum? Na, wegen der Folgen. Wir wollen nicht verletzt, beschimpft, isoliert, mit irgendetwas Kontroversem in Verbindung gebracht werden. ... Wenn man seine Meinung sagt, steht man in der Regel allein auf weiter Flur. So ist das."

 

In einen Witz gekleidet lassen sich manche Wahrheiten einfach leichter aussprechen. Sie nehmen der Konfrontation die beißende Schärfe, nicht aber den Biss. Witze sind zu wichtig, um nicht ernst genommen zu werden, sie enthüllen, aber entblößen nicht - und machen Spaß.

 

"Funny Girl" war schon 1964 der Titel eines Musicals und ein paar Anklänge daran finden sich in McCartens Roman. Im gleichnamigen Musical geht eine junge Frau gegen den Willen ihrer Mutter auf die Bühne, zunächst sehr erfolgreich. Dann gibt sie ihre Karriere zugunsten eines Mannes auf. Aus finanziellen Gründen fängt sie wieder an aufzutreten, ihr Mann macht windige Geschäfte, verliert das ganze Geld, landet schließlich im Gefängnis. Als er wieder frei kommt, trennt sich das Paar endgültig.

 

Bleibt zu hoffen, dass Azime, die am Ende des Romans am Anfang ihres Lebens steht, die erkämpfte Freiheit nicht gleich wieder aufgibt, ein bisschen verliebt ist sie ja.

 

 

 

 

 

 

Anthony McCarten: funny girl

Diogenes, 2014, 384 Seiten

Diogenes Taschenbuch, 2015, 384 Seiten