Daniel Galera - Flut

 

 

 Ein 33jähriger Mann erfährt im letzten Gespräch mit seinem Vater (bei dem dieser seinen Selbstmord ankündigt) die Umstände des Todes seines Großvaters.

Dieser ruhige, aber auch gewalttätige Mann mit dem Spitznamen "Gaúcho" wurde bei einem Tanzfest im Dorf erstochen. Von allen, von niemandem.

 

Die Polizei ermittelte nicht wirklich, dem Vater wurde ein offensichtlich nicht frisches Grab ohne Namen präsentiert. Im Dorf ging die Sage umher, der Gaúcho habe sich blutüberströmt erhoben und sei ins Meer gegangen.

Dann bittet der Vater seinen Sohn noch, nach seinem Tod die Hündin Beta zu töten, damit sie nicht ohne ihn weiterleben muss. Die Pistole liegt schon bereit.

Und er gibt ihm ein Foto des Großvaters.

 

Das ist ein Romananfang wie ein Erdbeben, dem ein Tsunami folgt.

Der Sohn verlässt sofort Porto Alegre und zieht nach Garopaba, wo sich der Mord am Großvater ereignet hat, haben soll.

Er mietet ein Häuschen, findet Arbeit als Schwimmlehrer. Die Hündin Beta nimmt er mit, er kann sie nicht töten.

Sie wird seine wichtigste Gefährtin, fast die zweite Protagonistin des Romans.

 

Zwei Besonderheiten zeichnen den Sohn aus:

er sieht genauso aus wie der Großvater und er leidet an Gesichtsblindheit. D.h. er kann sich keine Gesichter merken. Jeden Morgen blickt ihn ein fremder Mensch aus dem Spiegel an, andere Menschen erkennt er an den Händen, der Haltung oder Bewegung, an den Haaren.

Allen, die nichts von diesem Handicap wissen, erscheint er etwas seltsam, arrogant, die Menschen wollen sofort wiedererkannt werden.

 

In Garopaba versucht er etwas über die Vergangenheit des Großvaters herauszufinden, aber jeder, den er anspricht, reagiert abweisend bis feindselig.

Die älteren Leute erschrecken, wenn sie ihm begegnen. 

In diesem Fischerdorf an der brasilianischen Südküste ist der Aberglaube noch sehr lebendig und die Leute scheinen ihn für den Wiedergänger des Großvaters oder für einen Geist zu halten.

Vielleicht hat er deshalb keinen Namen?

 

Während der Monate, die er in Garopaba lebt, hat er zwei Freuninnen, beide verlassen ihn überraschend. Es wird immer einsamer um ihn, er taucht immer mehr in seine eigene Welt ab. Und die Suche nach dem Großvater und seiner Geschichte wird immer mehr zu einer Obsession, der er alles andere unterordnet.

Sein Drang zu schwimmen ist nicht nur dem Bedürfnis, den eigenen Körper zu spüren geschuldet. Das Element Wasser lässt sich so wenig fassen, wie er sein Leben fassen kann. 

 

Schließlich bekommt er einen Hinweis auf eine Frau, die vor Jahrzehnten die Freundin des Großvaters war. Er sucht sie auf, sie erzählt ihm, der Gaúcho sei nicht gestorben damals, er wäre ins Meer gegangen und hätte dann in den Bergen gelebt, vor wenigen Jahren hätte sie ihn zum letzten Mal gesehen.

Stimmt die Legende also doch?

 

Er bricht auf zu einer Wanderung in die Berge, bei Dauerregen mit der noch nicht ganz genesenen Beta (der Hund war nach einem Unfall schwer verletzt und es ist ein Wunder, dass er überlebt hat).

Diese Wanderung wird zu einer Odyssee von der er wie ein Schiffbrüchiger zurückkehrt. Orientierungslos und auf der Flucht stürzte er von einem Felsen ins Meer. Nur weil er ein ausgezeichneter Schwimmer ist und weiß, wie man sich im Wasser bewegen muss, überlebt er.

 

Er konnte das Rätsel um den Großvater lösen, sein eigenes Leben bleibt weiterhin verschwommen.

Man kann nicht sagen, dass sich ein Kreis schließt.

Die Bewegung innerhalb des Romans ist wie eine Welle.

Der Protagonist taucht auf, gewinnt an Kontur, dann wieder macht er sich fast unsichtbar, verschwindet hinter einer (Wasser)Wand aus Traurigkeit.

Mehr als einmal gerät er in einen Strudel, aus dem er kaum wieder auftauchen kann. Und doch geht er nicht unter.

Er hat gelernt, sich der Flut anzupassen.

 

"Egal, wie groß die Welle ist, du musst ihr so schnell wie möglich flach auf dem Grund entgegentauchen. Wenn sie dann bricht, zieht sie dich unter sich durch, und du tauchst auf der anderen Seite wieder auf. Wenn du vor ihr flüchtest, kracht sie direkt über dir zusammen, wennn du versuchst, sie an der Oberfläche zu durchschwimmen, landest du in der Wäscheschleuder und brichst dir entweder das Genick oder wirst von Korallen aufgeschlitzt."

 

In dieser Art ist er der Geschichte seines Großvaters begegnet. Sie war eine Welle, der er auf dem Grund entgegentauchte.

Er ist weder geflüchtet noch an der Oberfläche geblieben.

 

Dem 1979 in Sao Paulo geborenen, heute in Porte Alegre lebenden Autoren Galera ist ein Roman gelungen, der einen völlig in seinen Bann zieht. 

Die Natur ist nirgends eine freundliche, den Menschen beschenkende. Sie fungiert im Roman als Seelenspiegel des Protagonisten, ist gleichzeitig aber eigenständige Urgewalt.

Es gibt viele Passagen, die sehr mystisch sind, dennoch bleibt die Sprache überall klar und direkt.

 

Diesem ersten auf Deutsch übersetzten Roman (vier hat Galera bislang geschrieben) folgen hoffentlich bald die anderen. Er wurde unter die zwanzig besten jungen brasilianischen Autoren gewählt, zu Recht.

 

 

 

 



Daniel Galera: Flut

Übersetzt von Nicolai Schweder-Schreiner                     Suhrkamp, 2013, 425 Seiten

Taschenbuch Suhrkamp Verlag, 2015, 422 Seiten