Edmund de Waal

Der Hase mit den Bernsteinaugen

 

 

Netsuke - um diese kleinen, japanischen Kunstgegenstände rankt sich diese Geschichte.

Der titelgebende Hase ist einer von 264 Netsuke, die der Autor von seinem Großonkel geerbt hat.

Eine sehr große Sammlung, erworben in den 1870er Jahren in Paris. Sie machte eine Reise durch die Welt und die Zeitenläufe und ist Anlass, die Geschichte der Familie Ephrussi, aus der Edmund de Waal stammt, aufzuzeichnen.

 

De Waal wurde 1964 in England geboren, er ist Keramiker, dieses Buch sein erster Roman.

Dass er ein Mensch ist, der mit den Händen arbeitet, für den Dinge mehr als Gebrauchsgegenstände sind, der spüren kann, "ob das Gefäß hastig oder mit Sorgfalt hergestellt wurde", für den es nicht nebensächlich ist, "wie Objekte angefasst, benutzt und weitergegeben werden", ist eine Grundvoraussetzung, die sich durch das ganze Buch zieht.

 

Indem er den Weg der Netsuke verfolgt, will er die Räume betreten, in welchen sie standen, die Hände kennenlernen, die sie hielten oder mit ihnen spielten, die Umgebung erkunden.

 

Ganz am Ende des Buches schreibt de Waal:

"Ich erzähle Sascha, warum wir gekommen sind, dass ich ein Buch schreibe über - ich stocke und halte inne. Ich weiß nicht mehr, ist es ein Buch über meine Familie, über Erinnerung, über mich, oder immer noch ein Buch über kleine japanische Sachen?"

Es ist ein Buch über alle diese Dinge geworden. Eine Familiengeschichte, Gedanken über Behalten, Verwerfen, Zerstören, über Kunst und wie sie das Leben beeinflusst und verändert, die Begegnung und den Umgang mit der Welt.

 

Die Familie Ephrussi stammt ursprünglich aus Odessa.

Mit Weizenhandel legt sie den Grundstein eines unglaublichen Vermögens, das sie auf eine Stufe mit den Rothschilds stellt. Wie diese expandiert sie in ganz Europa, zunächst wird eine Filiale in Wien eröffnet, dann in Paris und London. Das Bankhaus finanziert Eisenbahnlinien, Hafenanlagen, Kanäle, Brücken usw und wird zu einem wichtigen Geldgeber für den Fortschritt im 19. Jahrhundert.

 

Charles, ein Spross der in Paris lebenden Ephrussi steigt nicht in die Bank ein, er macht sich einen Namen als Kunstkritiker, Sammler und Mäzen. Er ist einer der ersten, der die Impressionisten unterstützte und er ist ein großer Freund japanischer Kunst. 

Dies ist damals nichts Ungewöhnliches, im Gegenteil, Japan war schwer in Mode.

Zusammen mit seiner Geliebten sucht Charles Ephrussi die Netsuke bei einem Händler in Paris aus, lässt eine Vitrine dafür anfertigen und stellt sie in seinem Salon aus.

Die kleinen Gegenstände sind eng mit dieser Liaison verbunden, sie sind ein Versprechen und sie sind dafür geschaffen, berührt zu werden.

 

"Hält man ein japanisches object in Händen, enthüllt es sich. Die Berührung verrät, was zu wissen nötig ist: Sie verrät einem etwas über sich selbst." 

 

Der Leser wird Zeuge des Lebensstils einer neureichen Familie (Emporkömmlinge wurden sie genannt), er wird mitgenommen in die Salons, lernt die Bilder, die dort hängen, kennen und ihre Maler.

De Waal versucht nicht, mit all dem Glanz zu blenden, er schreibt keine Aneinanderreihung von Anekdoten und Familiengeschichtchen, er erfasst den Geist, der dort zu dieser Zeit herrschte. Und zeigt damit die Welt, die die Netsuke beherbergte. 

 

Im zweiten Teil des Buches reisen die Netsuke nach Wien: Charles schenkt die komplette Sammlung samt Vitrine seinem Cousin Viktor zur Hochzeit.

Im März 1899 finden sie dort im Palais Ephrussi, das am neu erbauten Wiener Ring steht, einen neuen Platz im Ankleidezimmer der jungen und sehr schönen Emmy.

Sie liebt es, sich stundenlang anzuziehen, ihre drei Kinder dürfen in dieser Zeit bei ihr sein und mit den Netsuke spielen.

Diese scheinen nun ein ganz anderes Leben zu führen: nicht mehr als Kunstobjekte mitten in einem Salon, sondern in dem intimen Bereich des Hauses, den kein Besucher betritt.

 

Wien, das war damals Aufbruch, es wurde unglaublich viel gebaut, aber es war auch die Hauptstadt der Melancholie und der Selbstmörder und es war eine Brutstätte von Nationalismus und Antisemitismus.

Im Jahr 1897 wird Karl Lueger Bürgermeister von Wien und viele Juden fragten sich: "Passt es zum guten Namen und den Interessen, dass Wien die einzige Großstadt der Welt ist, die von einem antisemitischen Hetzer verwaltet wird?"

 

Viktor Ephrussi verliert während des Ersten Weltkrieges einen guten Teil seines Vermögens (er handelt zu patriotisch und zeichnet noch 1917 Kriegsanleihen), die "Arisierung" des jüdischen Besitzes nach dem Anschluss Österreichs 1938 macht ihn vollkommen mittellos. Mit Hilfe ihrer Tochter Elisabeth können Viktor und Emmy in die Tschechoslowakei ausreisen, dort nimmt sich Emmy wenige Zeit später das Leben. Viktor zieht 1939 nach England, wo er bis zu seinem Tod 1945 bei Elisabeth und ihrer Familie lebt.

 

Das einzige, was aus dem ganzen Familienbesitz gerettet und nach dem Krieg von Elisabeth nach England mitgenommen werden kann, ist die Netsuke-Sammlung.

Die treue Zofe Anna hat sie Stück für Stück in ihrer Schürzentasche hinausgetragen, in ihrer Matratze versteckt und sie dann Elisabeth (Edmunds Großmutter) übergeben.

Von England aus gehen sie mit Elisabeths Bruder Ignaz, genannt Iggie, nach Japan. Er arbeitet dort ab 1946 und kehrt nicht mehr nach Europa zurück.

Edmund studiert einige Zeit in Tokio, lernt seinen Onkel gut kennen und erbt nach seinem Tod die Sammlung. Und so findet sie wieder nach England.

 

Es gibt schlechte Nachbildungen, billige Kopien der kunstvoll hergestellten Nesuke. Sie sind ohne Ausstrahlung, tote Gegenstände.

Die echte Netsuke aber sind Dinge, die zum Leben erwachen können, die in Paris ein anderes Leben führten als in Wien oder später in Tokio.

Sie teilen das Leben ihrer Besitzer und sind ein Sinnbild für Beständigkeit - wie jede Sammlung.

In diesem speziellen Fall sind sie ein Band, das die in alle Welt verstreute Familie Ephrussi miteinander verbindet.

 

"Von Charles und Louise in Paris, der Vitrine in dem leuchtenden gelben Zimmer mit den Impressionisten, zu Emmy und ihren Kindern in Wien, zu den ineinander verwobenen Geschichten und zum Verkleiden, zu Kindheit und So-tun-als-ob, bis zu diesem seltsamen Zubettgehen mit Anna in ihrem Zimmer.

Die Netsuke waren bereits früher in Bewegung gewesen. Seit sie aus Japan gekommen waren, hatte man sie begutachtet: aufgenommen, untersucht, in der Hand gewogen, wieder hingelegt. So etwas tun Händler, Sammler tun es und auch Kinder. Doch wenn ich an Annas Schürzentasche denke, mit ihrem Staubtuch oder einer Garnspule drin, dann denke ich, noch nie zuvor ist man ihnen mit so viel Behutsamkeit begegnet. ... Netsuke sind klein und hart. Sie werden kaum zerkratzt, kaum zerbrochen. ... Sie sind nach innen orientiert. Jedes Einzelne dieser Netsuke ist für Anna ein Widerstand gegen das Unterminieren der Erinnerung. ... Hier stößt der Wiener Kult der Gemütlichkeit...auf etwas Diamanthartes. ...

Keine Sentimentalität, keine Nostalgie. Es ist etwas viel Härteres, buchstäblich Härteres. Eine Art Vertrauen."

 

Ich bin wenig auf das Schicksal von Viktor, Emmy und ihren Kindern eingegangen. Kaum ein weiteres Wort zu Iggy und den Verhältnissen in Japan kurz nach dem Krieg. Ich habe nichts über die vielen Reisen erzählt, die Edmund de Waal machte, um in Archiven zu suchen, seine Begegnungen mit Briefen, Menschen und Städten. Nichts über seine Reflexionen über "Dinge" und seine ungewöhnlich guten Architekturbeschreibungen.

In diesem Buch steckt sehr viel, man muss den genauen Wortlaut lesen, so wie man einen Gegenstand selbst in der Hand halten muss, um sein Gewicht zu erfahren.

 

 

 

 

 

 

 

 

Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen

Übersetzt von Brigitte Hilzensauer

Paul Zsolnay Verlag, 2011, 416 Seiten

dtv-Taschenbuch, 2013, 352 Seiten