Erri de Luca - Fische schliessen nie die Augen

 

 

"Die Kindheit endet offiziell, wenn man den Jahren die erste Null hinzufügt. Sie endet, aber nichts geschieht, man steckt in demselben gehemmten Kinderkörper früherer Sommer, innerlich aufgewühlt und äußerlich unverändert. Ich zählte zehn Jahre."

 

De Luca blickt als Sechzigjähriger auf den Sommer zurück, in dem seine Kindheit endet. Er verbringt ihn mit der Mutter am Meer, für ein paar Wochen haben sie Neapel verlassen, zwei kleine Zimmer auf einer der Stadt vorgelagerten Insel in Strandnähe gemietet. Der Vater ist nach Amerika gegangen, um Arbeit zu suchen. Wenn er Fuß gefasst hat, möchte er seine Familie nachholen.

 

Erri verbringt seine Zeit nie mit Gleichaltrigen, er liest immerzu. Durch die Romane seines Vaters lernt er die Erwachsenen kennen, so gut, dass er schon im Voraus weiß, was sie tun werden. Ihn stört "der Abstand zwischen ihren Sätzen und den Dingen", d.h., dass sie nicht halten was sie versprechen. 

 

Sein Lieblingsverb ist "mantenere", halten, behalten, bewahren. Er wünscht sich, an der Hand gehalten zu werden, keine Zurückweisung zu erfahren.

Das zweite Verb, das ihn beschäftigt, ist "amare", lieben. Um dieses Wort herrscht in den Romanen "rege Geschäftigkeit" - und dieses Aufheben versteht er nicht.

 

De Lucas Auslotung dieser zwei Worte sind der Kern seiner Suche nach dem Menschen, der er fünfzig Jahre zuvor war, körperlich noch ein Kind, innerlich schon gewachsen. 

 

Er lernt am Strand ein Mädchen kennen, das seine ständige Lektüre von Krimis nur durch kurze Abkühlungen im Meer unterbricht. Kaum haben sie ein paar Sätze gewechselt, sagt sie: "Ich bin Schriftstellerin."

Sie schreibt Geschichten von Tieren, studiert ihr Verhalten und versucht, es genau so zu machen wie sie und "keineZeit zu vergeuden."

 

Sie kennt sich in der Natur aus, wie Erri sich bei den Erwachsenen auskennt. Er weiß um die Verschlagenheit und Verlogenheit  der Menschen, sie weiß, dass in der Natur Gerechtigkeit herrscht, dort geschieht nichts aus Rache.

 

Drei andere Jungs sind ebenfalls auf das Mädchen aus dem Norden aufmerksam geworden und es entwickelt sich eine männliche Rivalität. Erri wird angegriffen, die drei verprügeln ihn dermaßen, dass er eine gebrochene Nase und andere Verletzungen davonträgt. Er hat diesen Überfall nicht provoziert, aber ein Stück weit geschehen lassen. Denn er hat das Gefühl, in seinem Körper eingesperrt zu sein, nicht richtig wachsen zu können. Und er erhofft sich, dass von der Prügelei die "Schale aufbricht."

 

Für das Mädchen ist nun die Zeit gekommen, zu handeln. Mit einer List bringt sie die Jungs dazu, sich gegenseitig zu schlagen und damit die Gerechtigkeit wieder herzustellen.

Dieses Wort wird in de Lucas Jugendjahren im Mittelpunkt seines Denkens stehen, im Moment ist ewas anderes wichtiger: das Mädchen befreit das Verb "lieben" aus seinem Gefängnis.

Ohne körperliches Begehren, rein durch eine geistig-herzliche Übereinstimmung und durch ein zartes Halten seiner Hände gelingt ihr dieses.

 

Einmal, bei einem gemeinsamen Sprung ins Wasser, hatte sie seine Hand gehalten und sie auch beim Auftauchen nicht losgelassen.

 

"Das war es, mein Lieblingswort: mantenere, halten. Wie konnte sie das wissen? Ich dachte nach und antwortete mir: Sie weiß es eben. Noch nie zuvor hatte ich etwas so Weiches berührt. Und das bis heute nicht, inzwischen weiß ich es. Ich sagte zu ihr, dass ihre Handfläche glatter sei als das Innere einer Muschel... "

"Weißt du, dass du einen Satz der Liebe gesagt hast?"

 

Das Mädchen hat Erri damals einen Lebens-Raum aufgeschlossen, ihm eine neue Größe gegeben, einen Keim geschenkt, in dem alles Folgende enthalten ist.

 

De Lucas Stil ist hier noch konzentrierter als in den vorausgehenden Büchern. Er schweift nicht ab, hält sich nicht mit Landschaftsbeschreibungen oder Stimmungsbildern auf, er reiht seine Sätze aneinander wie Perlen auf eine Kette. Er vergeudet keine Zeit, wie es das Mädchen ausdrückt.

 

Das Buch ist weder melancholisch, noch ist es eine mediterrane Sommergeschichte, die man mit leiser Wehmut oder welker Sehnsucht liest.

Es sind ganz präzise Erinnerungen eines Menschen mit einem sehr bewegten Leben an eine Zeit des Übergangs, zusammengedacht mit den Erfahrungen von sechzig Jahren Leben.

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Erri de Luca: Fische schliessen nie die Augen

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Graf Verlag, 2013, 160 Seiten

Taschenbuch List Verlag, 2014, 160 Seiten