Jessica Soffer - Morgen vielleicht

 

 

Eine junge Autorin, geboren 1985, und eine genau so junge Übersetzerin, die ihre Arbeit ganz wunderbar gemacht hat, bescheren dem Leser einen Erstling, der schon sehr ausgereift ist. Und im wahrsten Sinne des Wortes Appetit auf Literatur macht.

 

Kochen und Essen spielen nämlich eine ganz große Rolle in diesem Roman, der sich um das Thema "Suche" dreht.

 

Protagonistin ist die vierzehnjährige Lorca, die mit ihrer Mutter Nancy bei deren Quasi-Schwester lebt.

Nancy ist ein Adoptivkind, Tante Lou das leibliche Kind der Eltern. 

 

Nancy war vor ihrer Ehe eine gefragte Köchin in New Yorker Restaurants. Ein Umzug mit ihrem Mann nach New Hampshire warf sie beruflich aus der Bahn, aber ihr gelingt nach der Trennung von Paul der Wiedereinstieg und bald hat sie 35 Mitarbeiter unter sich. Und ein entsprechend anstrengendes Leben.

 

Lorca ist gerade von der Schule suspendiert worden, nun soll sie in ein Internat, was sie absolut nicht möchte. Deshalb entwickelt sie einen Plan: die Mutter erwähnte einmal, dass die einzige Speise, die sie jemals wirklich glücklich gemacht hat, Masgouf war. Dieses irakische Nationalgericht aß sie in einem kleinen, familären Restaurant, irgendwo in Manhattan.

Lorca will dieses Restaurant ausfindig machen, um das Rezept bitten und es ganz original nachkochen.

Die dann glückliche Mutter würde sie nicht ins Internat schicken. Hofft sie.

Mit Hilfe des jungen Buchhändlers Blot, zu dem sich eine zarte und sehr zurückhaltende Freundschaft entwickelt (beide sind scheue und verletzliche Menschenkinder), findet sie tatsächlich die damalige Eigentümerin.

 

Wer hat nach Jahren noch ganz genau den Geschmack eines Essen auf der Zunge, im Mund?

Wahrscheinlich nicht einmal eine Superköchin wie Nancy. Aber für Lorca wird die Suche zu einer fixen Idee, denn eigentlich sucht sie etwas anderes.

Ihre Mutter. Einmal einen anerkennenden Blick, ein ganz klein wenig Zuneigung oder Zärtlichkeit.

Während des ganzen Romans ist Lorca damit beschäftigt, es der Mutter recht zu machen. Sie fühlt sich für deren Leben und Glück verantwortlich, nur sie kennt die Schwachstellen der Mutter, weiß, wovor sie sie beschützen muss.

 

Die Mutter erlebt man durchgängig abweisend. Sie tut so, als hätte sie alles im Griff, aber der nächtliche Weinkonsum spricht dagegen. Sie hält sich für eine sehr gute Mutter, dabei sieht sie ihr Kind nicht einmal. Sie beherrscht die Kunst, knapp an Lorca vorbei zu schauen, durch sie hindurch zu sehen, sie nicht zu hören und ihre Bedürfnisse zu übergehen, perfekt.

Dass Lorca sich selbst verletzt mit Messern, Feuerzeugen etc weiß sie, aber sie reagiert nicht darauf, bzw. will sie abschieben.

 

Die zweite Hauptperson des Buches ist Victoria. Sie ist eine gebürtige Irakerin, kam als junge Frau nach Amerika und eröffnete in Manhattan mit ihrem Mann Joseph Ende der 50er Jahre eben jenes Restaurant, in dem es das glücklich machende Essen gab. Mittlerweile ist Victoria über siebzig, ganz kurz bevor Lorca zum ersten Mal zu ihr kommt, ist Joseph gestorben. Doch sie reißt sich zusammen und gibt Lorca Kochunterricht.

 

Die beiden mögen sich. Vitoria fasst wieder Lebensmut und ohne Vorwarnung erzählt sie Lorca, dass sie vor Jahrzehnten ihre Tochter gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat. Die Abwesenheit des Kindes hat Victorias ganzes Leben bestimmt. Lorca antwortet ganz schlicht, scheinbar unerschüttert: "Meine Mutter ist adoptiert".

 

Plötzlich steht der unausgesprochene Gedanke im Raum: könnte Nancy Victorias Tochter sein? Victoria entdeckt Ähnlichkeiten zwischen sich und Lorca, Äußerlichkeiten, aber auch die Liebe zum Essen, ihre Geschicklichkeit in der Küche.

 

Innerlich beginnen beide zu tanzen, sie suchen getrennt voneinander nach Spuren, geben sich großen Hoffnungen hin.

Nocheinmal eine andere Wendung nimmt dann die Geschichte, als Victoria Informationen von Dottie, ihrer langjährigen geliebt-gehassten Nachbarin-Freundin, bekommt.

Nun wird es Zeit, die Vergangenheit neu zu denken, plötzlich ist alles anders, als es immer war.

 

Auch für Lorca: "Mein ganzes Leben lang war ich auf der Suche nach ihr ziellos umhergestreunt - selbst wenn sie direkt neben mir saß. Aber etwas hatte sich verändert."

 

Soffer hat nicht nur die junge Lorca sehr überzeugend dargestellt. Auch Victoria, Dottie, Tante Lou oder die Mutter sind authentische Personen, oder Joseph, den man ebenfalls kennen lernt. Und Blot, der Lorca wahrscheinlich das Leben rettet.

Trotz den Abgründen, die überall lauern, ist der Roman kein depressives Buch, denn alle Menschen suchen nach Erklärungen und Verbesserungen, keiner hat aufgegeben.

Dieses Hoffnungsvolle ist vielleicht dem Alter der Autorin geschuldet. Sie stellt es überzeugend dar, es wirkt nie übertrieben oder kitschig, da sie trotz allem den Schmerz nicht außen vor lässt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Jessica Soffer: Morgen vielleicht

Übersetzt von Anna-Christin Kramer

Kein & Aber Verlag, 2013, 384 Seiten

(Originalausgabe ebenfalls 2013)