Navid Kermani - Grosse Liebe

 

 

Die große Liebe erlebt der Junge mit fünfzehn Jahren. Sie ist die erste, umwerfende, sich nie mehr wiederholende, und deshalb ist sie die größte. 

Kermani, der von sich selbst schreibt, sich aber "der Junge" nennt, distanziert sich so ein Stück weit vom eigenen Erleben. Er schaut mit dem Abstand von dreißig Jahren zurück auf diesen verrückten Ausnahmezustand, vielleicht auch deshalb, weil sein Sohn gerade in dieses Alter kommt.

Wen will er verstehen?

Ich glaube, die Liebe selbst. Und wenn man etwas verstehen möchte, muss man ganz zurück an den Anfang gehen.

 

Er geht an seinen persönlichen Liebes-Anfang zurück und verknüpft seine Gefühle und Gedanken unablässig mit Stellen aus der christlichen und islamischen Religion, sowie der orientalischen Literatur. Und holt sich damit göttlichen Beistand. 

 

Der Junge sieht "die Schönste des Schulhofs" immer in der Pause. Sie steht in der Raucherecke, ist schon neunzehn und wird bald Abitur machen. Der Junge darf noch nicht einmal in die Raucherecke, von der Ferne schmachtet er sie an, versteckt hinter den "breiteren Rücken" älterer Schüler.

Jutta heißt sie, auch sie ist engagiert in der Anti-AKW-Bewegung, in der Friedensbewegung, sie lebt in einem besetzten Haus hinter dem Bahnhof - der Junge wohnt noch bei den Eltern. Doch er ist politisch aktiv, nimmt an Demos gegen den Nato-Doppelbeschluss teil, auch an der Blockade des Verteidigungsministeriums in der damaligen Hauptstadt Bonn.

 

Die Beschreibung des Zeitgeistes der 1980er ist Kermani (Jahrgang 1967) trefflich gelungen. Sofort entstehen beim Lesen Bilder von strickenden Männern mit Rauschebärten, Frauen in wallenden Kleidern, ein jeder mit gesunden Schuhen an den Füßen, leere Weinflaschen als Kerzenhalter, eine Obstkiste als Bücherregal neben dem Bett, auf dem Svende Merians "Der Tod des Märchenprinzen" nicht fehlen durfte. Dieses Buch kannte damals jeder, wirklich jeder. Auch an den Begriff "faschistoid" erinnert man sich, stand doch alles unter diesem Generalverdacht, was ein wenig außerhalb der oben genannten Bewegungen stand. Deutlich wird aber auch, dass diese 80er Jahre weder "cool noch ironisch" waren, dass damals Ideale wie Altruismus hoch im Kurs standen: dafür würde man heute belächelt, heute zählen andere (Kurs)Werte.

 

Auch der Junge ist gefangen in vielen Klichees, natürlich hält er sich für absolut individualistisch und authentisch.

Heute stellt er sich die Fragen: Was bedeutet es, zu sich selbst zu kommen, "ich" zu werden? Gibt der Liebende seine Identität nicht sofort wieder auf? Liebt er wirklich den anderen, oder vielmehr sich selbst, indem er wiedergeliebt werden und den anderen für sich gewinnen möchte?

 

Diese Fragen beantwortet Kermani vorzugsweise mit Worten aus uralten orientalischen Schriften und hebt damit seine Gefühle auf ein überpersönliches Niveau.  Das ist eine gute Möglichkeit, dem eigenen Leben von außen zu begegnen, quasi von sich abzusehen um ganz nah heran zu kommen.

Und für den Leser ist es unglaublich schön, alle diese Zitate, die nicht zum Schatz des mitteleuropäischen Billdungskanons gehören, zu lesen und eine fremde Welt kennen zu lernen. 

 

Dem Jungen wird leider nur ein kurzes Glück gewährt. Gerade mal eine Woche dauert die "Vereinigung", auf die tiefste Verzweiflung und ein nie endender Schmerz folgen. 

Auch wenn er wieder, tiefer und länger lieben wird, diese erste Liebe bleibt der Nukleus, in dem alles später Erlebte enthalten ist.

 

 

 

 

 

Navid Kermani: Grosse Liebe

Hanser Verlag, 2014, 224 Seiten

Rowohlt Taschenbuch, 2016, 224 Seiten