Owen Matthews - Winterkinder

 

 

Matthews, Historiker und Journalist, hat eine drei Generationen umfassende Familiengeschichte geschrieben, die Jahrzehnte europäischer Geschichte spiegelt.

Sie setzt ein mit den Großeltern im Jahr 1937. Der Großvater ist ein wichtiger Parteifunktionär in Tschernigow, Ukraine. Er ist ein fleißiger Mann, der sich für die kommunistische Partei verdient gemacht hat. Er hofft als Sekretär für Agitation und Propaganda, sowie Träger des Leninordens, ganz nach oben zu kommen und einen Posten in Kiew oder sogar Moskau zu erhalten.

Doch er wird völlig unerwartet verhaftet, als er im Juli 1937 eine Reise in den Süden antritt, wo er eine Kur machen will. Am Morgen hat er sich fröhlich von seiner Frau und den beiden Töchtern verabschiedet, anscheinend völlig ahnungslos. Nach einem dreimonatigen Aufenthalt im Gefängnis wird Boris Bibikow erschossen, sein Geständnis, die Partei geschädigt zu haben, erfolgte vermutlich unter Folter.

 

Sehr interessant ist, wie Matthews das Leben und die Stimmung in der damaligen Sowjetunion beschreibt. Bibikow glaubte an den Sozialismus, er baute aus dem Nichts eine riesige Ziegelfabrik auf, trieb die Arbeiter zu immer neuen Höchstleistungen an. Nicht ausgespart bleiben die Schattenseiten: die Hungersnot, weil die Höfe verstaatlicht worden waren und die Bauern entweder zu Arbeitern wurden oder sich weigerten, ihre Ernte in die Städte abzugeben.

Bibikow steht stellvertretend für so viele begeisterte Menschen, die andere mitreißen konnten, die keine Rücksicht auf ihre eigene Gesundheit oder private Bedürfnisse und Interessen nahmen: privat gab es nicht mehr, Partei und Fortschritt waren alles. Wie viele Tote es in den Anfangdreißigern gegeben hat, wie qualvoll der Fortschritt erkauft wurde, wie Männer vom Holz eines Bibikow damit umgingen, das alles beschreibt Matthews sehr eindrücklich.

 

Nach Bibikows Verhaftung wird seine Ehefrau nach Kasachstan deportiert, die Töchter Lenina und Ljudmila kommen ins Waisenhaus. Sie erleben Fürchterliches. Ein bisschen Glück haben sie, schließlich in ein Heim zu gelangen, das von einem fürsorglichen Mann geleitet wird, der sein Möglichstes tut um die Kinder zu schützen: vor der Partei, dem Krieg, dem Hunger.

Doch die Mädchen werden getrennt, viel später finden sie sich durch einen Zufall wieder, der fast an ein Wunder glauben lässt.

 

Mila ist die Mutter des Erzählers. Sie ist Leherin geworden, Matthews beschreibt sie als willensstark, lesewütig, mitreißend und trotz der vielen schlimmen Ereignisse in ihrem Leben und einer lebenslangen Behinderung nach einer Tuberkuloseerkrankung als Kind als einen positiv eingestellten Menschen.

 

Seine Eltern lernen sich im Juli 1964 in Moskau kennen, nur eine kurze Zeit können sie zusammen verbringen, dann sind sie bis Oktober 1969 getrennt. In dieser Zeit schreiben sie sich hunderte Briefe, mindestens einen am Tag, manchmal mehrere. Der Fund dieser Korrespondenz ist für Matthews zum Anlass geworden, die Geschichte seiner Familie aufzuschreiben.

 

Sein Vater Mervyn, ein Brite, war zuerst für die Botschaft, später an der Universität in Moskau tätig. 

Dort, in Moskau, lernen die Eltern sich kennen.

1964 schreibt die Mutter in einem Brief:

 

"Im Herbst 1963 sah ich Dich zum ersten Mal. Ich spürte eine Art inneren Impuls, eine flüchtige, sengende Gewissheit, dass Du genau der Mensch seist, in den ich mich endlich wirklich verlieben würde. Es war, als habe sich ein Stück meines Herzens abgelöst und ein eignes Leben in Dir begonnen. Ich hatte mich nicht getäuscht. Schon nach kurzer Zeit verstand ich Dich und kam Dir so nah, als wäre ich schon Dein Schatten gewesen, als Du Deine ersten Schritte in dieser Welt machtest. Alle Schranken brachen - politisch, geografisch, national, sexuell. Die ganze Welt war für mich in zwei Hälften geteilt - die eine wir (Du und ich), die andere - der Rest."

 

Neun Monate verbringen die beiden Liebenden zusammen, sechs Jahre sind sie danach getrennt. Die Welt ist in zwei Hälften geteilt, nicht in "Wir" und "der Rest", sondern in Ost und West.

Der kalte Krieg - und vielleicht stehen wir gerade jetzt am Beginn eines neuen kalten Krieges - spielt nicht nur auf der politischen Bühne, er greift in Lebensläufe ein.

Unter dem Vorwand des "Verbrechens der Wirtschaftsspekulation" - Mervyn hatte einem ehemaligen Studienfreund einen Pullover verkauft - wird er von den Behörden einbestellt und verhört. Es gibt einiges hin und her, die britische Botschaft schaltet sich ein, er wird gezwungen diverse Papiere zu unterzeichnen, er erfährt, dass Mila als KGB-Spionin verdächtigt wird und Mervyn hat schließlich keine Wahl mehr: er muss die Sowjetunion verlassen.

Kaum in England, fängt er an, sich um Milas Ausreise zu kümmern. Er ist realistisch und veranschlagt dafür fünf Jahre, wäre die Sache dann noch immer aussichtslos, würde er sich in sein Scheitern fügen.

 

1969 werden zwei sowjetische Spione gegen die Heiratserlaubnis dreier britischer Staatsbürger ausgetauscht: Mervyn und Mila können heiraten, Mila darf nach England ausreisen.

In die Freude mischt sich für Mila auch das Wissen, dass sie nie wieder zurückkehren kann. Sie wird ihre Familie, ihre Freunde, ihre Heimat zurücklassen.

 

In England unterrichtet sie Russisch, sie übersetzt, lebt sich ein. Aus einer durch Briefe am Leben erhaltenen Liebe muss eine "reale" Ehe werden, Mila und Mervyn schaffen es.

Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion reisen sie wieder nach Moskau und finden dort eine andere Welt.

 

Matthews Geschichte von "Drei Generationen Liebe und Krieg", wie der Untertitel lautet, zielt nicht auf Spannung ab, trotzdem ist sie eine Lektüre, die kaum unterbrochen werden kann. Denn es ist wirklich spannend zu verfolgen, wie sich die Lebensläufe der Eltern und Großeltern gestalten, parallel zur politischen Entwicklung.

Er schreibt ohne sentimentale Einschübe, mit der Genauigkeit des Historikers, und an vielen Stellen sehr berührend.

 

 

 

 

 


Owen Matthews: Winterkinder

Aus dem Englischen übersetzt von Vanadis Buhr

Graf Verlag, 2014, 400 Seiten