Ralph Dutli - Soutines letzte Fahrt

 

 

"Rot, eine zügellose Feier von Rot: Zinnober, Karmesin, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Scharlachrot, Rubin ... Es ist der Konditorjunge, den Soutine in Céret gemalt hat: Rémy Zocchetto mit Namen, siebzehn Jahre alt. Mit einem riesigen, abstehenden rechten Ohr geschlagen und mit dem roten Taschentuch, das die linke Hand wie einen Stummel verbirgt. Ein großer blutroter Fleck über dem Bauch, der den Ort markiert, wo Magengeschwüre wohnen. Ein Bild, das Soutines Leben verändern wird. Ja, es ist seine Eroberung Amerikas."

 

Chaim Soutine, geboren in einem Dorf in der Nähe von Minsk im Jahr 1893, mit zwanzig Jahren nach Paris, der Welthauptstadt der Malerei gekommen, dort 1943 bei einer heimlich durchgeführten Operation verstorben. 

Chaim, der Jude, der sich gegen das Bilderverbot auflehnt, der nicht das Wort als weltkonstituierend ansieht, sondern die Farbe.

Der in einem permanenten Rausch Farbe auf die Leinwand wirft, nur so seine Existenz rechtfertigen kann.

Der jahrelang unter größten Schmerzen lebt und malt, Tag und Nacht von einem Magengeschwür gequält wird, dem nur Milch etwas Erleichterung bringt. Und neu kreierte Schmerzmittel, vor allem Morphium.

Weiß, als Farbe oder Nicht-Farbe, als Verheißung des Paradieses ist das Kontrastbild zu den leuchtenden Tönen, in denen Soutine malt, Dutli schreibt.

 

Seine letzte Fahrt erlebt Soutine im Leichenwagen: er lebt zu diesem Zeitpunkt versteckt in der kleinen Ortschaft Chinon, mit seiner Gefährtin Marie-Berthe Aurenche, der Ex-Frau von Max Ernst. Sie organisiert die Reise nach Paris, nur dort kann Soutine operiert werden. Der Leichenwagen muss auf Schleichwegen fahren, der untergetauchte Jude soll nicht den Nazis in die Hände fallen. Soutine hat vor der Abfahrt eine kräftige Dosis Morphium erhalten, anders würde er die Fahrt, die vierundzwanzig Stunden dauert, nicht überstehen.

 

Diese wenigen Tage zwischen dem Aufbruch in Chinon und Soutines Tod in Paris sind der Zeitrahmen, in dem der Roman spielt. Er ist ein unglaublich geschickter Zusammenbau von Rückblenden, Erinnerungen, Träumen, Phantasien, Blicken auf Zeitgeschichte und Zeitgenossen, auf die Frauen, die um Soutine herum waren und immer wieder Reflexionen über Soutines Suche nach der richtigen Farbe.

Unglaublich vielfältig, aber keineswegs verwirrend.

 

Mit den meisten Einwanderern und jungen Künstlern teilt Soutine das Schicksal der Armut. Er lebt im "Bienenstock" der Russen, verrichtet schwere Arbeiten als Lastenträger, hat kaum genug zum Überleben. Er lernt aber auch sehr viele Künstler kennen, quasi alle, die wir heute noch kennen, und Kunsthändler, später seine Mäzene.

 

1923 ändert sich seine Lage: der amerikanische Milliardär Barnes, ein Pharmakologe, kommt nach Paris, hungrig auf moderne Kunst. Er entdeckt den unbekannten Soutine und kauft zwischen 50 und 100 Bilder von ihm, die er nach Amerika mitnimmt - dort hat der Maler seine erste Ausstellung. 1925 kann Soutine seine erste richtige Wohnung mieten. Drei Jahre später erfolgt der erste Zusammenbruch wegen des Magengeschwürs, mit der Weltwirtschftskrise brechen auch die Einkäufe der reichten Amerikaner weg, Soutine und viele seiner Kollegen müssen wieder in ihr altes, bescheidenes Leben zurück.

 

Aber das scheint für Soutine nicht das drängendste Problem gewesen zu sein. 

Seine Suche nach dem richtigen Blauton für eine Feder am Hals eines Fasans, dem richtigen Rot für das blutübergossene Ochsengerippe, die vorausgesehenen Züge eines jungen Menschen, den er gealtert malt, das luzide Schimmern eines Lichtstrahls auf einem Kleid - darum geht es im Leben des Malers.

Und wenn es ihm nicht gelingt, zerschneidet er seine Bilder mit einem Messer oder er verbrennt sie.

Man weiß nicht, wie viele Bilder Soutine zerstört hat, nur einige konnte sein Kunsthändler Zborowski retten und reparieren lassen.

 

In seinem Fiebertraum erinnert sich Soutine an diese Schöpfungs- und Zerstörungsakte. Er erinnert sich auch an ein letztes gemaltes Bild: er selbst in ein weißes Laken gehüllt auf einem Bett liegend, auf dem Bauch ein Gebinde aus flammendroten Gladiolen, die Hände mit den Farbrändern unter den Nägeln gefaltet. 

Es gibt eine Fotographie von Rogi André (1905-70), einer Künstlerin, die viele Maler vom Montparnasse abgelichtet hat, auf der genau diese Szene zu sehen ist.

Ich habe kein entsprechendes Bild Soutines gefunden, das er früher einmal gemalt hat, kein Totenbildnis von sich selbst.

 

Dutli hat die Erinnerung an ein nicht gemaltes Bild in Soutines Fiebertraum hineingeschrieben.

Er hat keine am Faden der Chronologie klebende Romanbiographie verfasst, er hat sich auf die Suche nach dem Kern, der inneren Antriebsfeder begeben, beginnend am Ende eines Lebens, zurückgehend bis zum schmutzigen, farblosen Kindheitsort, in dem der Maler begann, sich nach Farbe zu sehnen.

 

Der Lyriker Dutli hat einen grandiosen Roman geschrieben, ebenso kraftvoll, farbig und anschaulich wie die Bilder Soutines.

Diese kann man stundenlang betrachten und sich immer wieder fragen, warum dieser Maler nicht in einem Atemzug mit Van Gogh, Cezanne, Picasso ... genannt wird.

Der zuletzt Genannte war einer von fünf Menschen, die an Soutines Grab standen. Die Beerdigung erfolgte so geheim wie möglich im besetzten Paris.

 

 

 

 

 

Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt

Wallstein Verlag, 2013, 272 Seiten