Volker Weidermann - Ostende, 1936

Sommer der Freundschaft

 

 

Im Sommer 1936 treffen sich in dem kleinen belgischen Seebad Menschen, die in Deutschland oder Österreich nicht mehr leben können.

Deren Bücher verboten und verbrannt wurden, die kein Einkommen mehr haben, da ihnen der Markt weggebrochen ist, die keine Heimat mehr haben, ins Exil gehen mussten.

 

Stefan Zweig und Joseph Roth sind die beiden Hauptpersonen des Romans, die beiden sehr unterschiedlichen Dichter, die eng miteinander befreundet sind. 

Zweig, Jude, Sohn eines Wiener Textilfabrikanten, ein weltberühmter Dichter, reich und mit guten Verbindungen.

Roth, aus kleinen galizischen Verhältnissen, Anhänger der österreichischen Monarchie, wenig bekannt und ziemlich mittellos, schwerer Alkoholiker.

 

Um diese beiden Männer bildet sich eine ganze Gruppe von Dichtern, die die Sommermonate am Meer verbringen.

"Der scheinbar immer frohe Hermann Kesch, der Prediger Egon Erwin Kisch, der Bär Willi Münzenberg, die Champagnerkönigin Irmgard Keun, der große Schwimmer Ernst Toller, der Stratege Arthur Koestler, Freunde, Feinde, von einer Laune der Weltpolitik in diesem Juli hierher an den Strand geworfene Geschichtenerzähler. Erzähler gegen den Untergang."

 

Stefan Zweig war auch im Sommer 1914 in Ostende gewesen, hier erlebte er die Ereignisse, die zum Ersten Weltkrieg führten. Und von hier aus beleuchtet Weidermann in seinem Roman das Zeitgeschehen, das all die Dichter ins Exil trieb. Nicht als historisches Tableau, sondern um die Personen mit ihren Besonderheiten und ihre Rolle in der Gesellschaft und der Gruppe der Exilanten zu zeigen. Die Historie bildet den Hintergrund, im Mittelpunkt stehen die Begegnungen der Menschen.

 

Sie treffen sich in Cafés und Bistros, plaudern, kommentieren die neuesten Nachrichten, versuchen Einfluss zu nehmen - es könnte ein ganz normaler Sommer sein, wenn nicht die Zustände in Deutschland immer schlimmer würden. 

Sie fürchten - im Grunde wissen sie es  - dass sie sich für lange Zeit im Exil einrichten müssen. 

 

Die junge Schriftstellerin Irmgard Keun ist die einzige Nicht-Jüdin im Kreis der Exilanten, sie verließ Deutschland, weil sie in diesem Klima nicht mehr leben wollte. Sie ist modern, frech und kritisiert an der aktuellen Literatur vor allem eines: den weit nach hinten gewandten Blick der Romanciers. Nicht schon wieder ein Geschichtsbuch! 

"Wann, wenn nicht jetzt geht es um die Gegenwart, muss es in den Büchern um die Gegenwart gehen? Die Bücher sind in Deutschland ja ohnehin verboten. Es besteht doch keine Notwendigkeit, historisch zu verklausulieren was man aktuell und dringlich über die Gegenwart schreiben muss."

 

Ausgerechnet die lebenslustige Irmgard Keun und der immer in Schwierigkeiten steckende, wesentlich ältere Roth werden ein Liebespaar - sie erkennt, was ihn im Innersten bewegt, sie weiß um die Kämpfe, die sich Phantasie und Verstand in ihm liefern. 

 

Wenn Roth mit einem Roman gar nicht mehr vorwärts kommt, ist es allerdings immer noch Zweig, der ihm weiterhelfen kann - und anders herum. Die beiden Dichter legen sich gegenseitig ihre Texte vor, stellenweise ist nicht mehr festzustellen, welcher von beiden ganze Passagen eines Buches schrieb.

Diese Freundschaft unterliegt nicht der Konkurrenz.

 

Am Ende des Sommers reist Stefan Zweig nach Brasilien. Dort ist er ein Star, er blendet all das aus, was auch dort politisch im Argen liegt, er probiert aus, wie es sein könnte, weit weg von Europa noch einmal neu anzufangen.

Roth hingegen zieht es in die Heimat der Kindheit: er fährt nach Galizien, möchte die vertrauten Gesichter der alten Juden noch einmal sehen.

 

Sie trefffen sich kurz im Jahr 1937 in Salzburg, dann im Frühjahr 1938 in Paris. Keun hat sich von Roth getrennt, er ist in katastrophalem Zustand. 

Danach sehen sie sich nicht wieder. 

Joseph Roth stirbt im Mai 1939, kurz nachdem er die Nachricht erhielt, dass Ernst Toller sich in New York das Leben genommen hat. Stefan Zweig stirbt im Februar 1942 in Brasilien an einer Überdosis Schlafmittel.

 

Der Roman zeigt einen Ausschnitt des Lebens im Exil, die Verwerfungen, die der Verlust der (Sprach)Heimat hervorruft und er gibt auch ein tieferes Verständnis für die dort entstandene Literatur.

Stilistisch sehr fein gezeichnet und mit großer Kenntnis der Dichtung ist er ein Buch über die Kunst in dunklen Zeiten und die Menschen, denen übermenschliche Kräfte abverlangt werden, um in dieser Situation weiterleben und weiterschreiben zu können.

 

 

Weidermann zitiert in seinem Buch eine Passage aus Stefan Zweigs Das Buch als Eingang zur Welt, die auch ich hier wiedergeben möchte, weil sie mir wesentlich für die Welt der Literatur erscheint:

 

"Denn wenn wir lesen, was tun wir anderes als fremde Menschen von innen heraus mitzuleben, mit ihren Augen zu schauen, mit ihrem Hirn zu denken?

Und nun erinnerte ich mich immer lebhafter und erkenntlicher aus diesem einen belebten und dankbaren Augenblick an die unzähligen Beglückungen, die ich von Büchern empfangen. Ich erinnerte mich an wichtige Entscheidungen, die mir von Büchern kamen, an Begegnungen mit längst abgestorbenen Dichtern, die mir wichtiger waren als manche mit Freunden und Frauen, an Liebesnächte mit Büchern, wo man wie in jenen anderen den Schlaf selig im Genuss versäumte; und je mehr ich nachdachte, umso mehr erkannte ich, dass unsere geistige Welt aus Millionen Monaden einzelner Eindrücke besteht, deren geringste Zahl nur aus Geschautem und Erfahrenem stammt - alles andere aber, die wesentliche verflochtene Masse, sie danken wir Büchern, dem Gelesenen, dem Übermittelten, dem Erlernten."

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Volker Weidermann: Ostende 1936

Sommer der Freundschaft

Kiepenheuer&Witsch, 2014, 160 Seiten

btb, 2015, 160 Seiten