Wolfgang Herrndorf - Sand

 

 

Das Meer-Die Wüste-Die Berge-Die Oase-Die Nacht: das sind die 5 Bücher des Romans, die den Leser in eine Geschichte entführen, in der einem leicht der Boden unter den Füßen wegrutscht, oder wegrieselt?

 

Der Plot in kurzer Zusammenfassung: ein Mann, der durch einen Schlag auf den Kopf sein Gedächtnis verloren hat (er erinnert sich nicht einmal mehr an seinen Namen) und nun nach etwas sucht, das für andere von enormer Wichtigkeit zu sein scheint - er wird extrem gefoltert, um zu erfahren, wo dieses Etwas ist - versucht herauszufinden, wer er ist, und was er wohl zu verbergen hat.

Eine platinblonde Amerikanerin (die darf einfach in keinem Thriller fehlen) scheint ihm dabei zu helfen, ebenso ein Psychiater, doch deren Hilfe erweist sich als das Gegenteil dessen, was sie zu sein vorgibt.

 

Hat die Sache mit dem Überfall der Palästinenser auf die israelischen Athleten bei der Olympiade 1972 zu tun oder ist es Zufall, dass der Roman zu diesem Zeitpunkt spielt?

Außerdem ist auch noch der Überfall auf eine Hippie-Kommune in einem Dorf in Nordafrika mit vier Toten Thema, ein verschwundener Geldkoffer stellt ein Verbindungsglied zum namenlosen Mann her, der einfach Carl genannt wird, weil dieser Name in seinem Jacket steht (wird aber wohl eher der Hersteller sein), und dann ist da noch Cetrois, der vielleicht Carl, also der echte, ist???

Die beiden Kommissare Canisades und Polidorio sind jedenfalls überfordert, was die Aufklärung des Mordes an den vier Kommunarden angeht - Polidorio kostet sein Eifer sogar das Leben, aber wieder ergibt sich eine Verbindung zum namenlosen Carl.

 

Das klingt viel wirrer, als es ist. Es braucht einige Freude an Detektivarbeit und vielleicht ein paar Notizen, denn jedes Detail zählt.

Man muss nicht die Absicht aufgeben, die Geschichte verstehen zu wollen, denn meiner Ansicht nach lässt sie sich sehr wohl auflösen.

Vielleicht sollte man einfach aufmerksam lesen und nicht nebenbei überlegen, ob es sich um einen Spionagethriller oder einen Gesellschaftsroman handelt. 

Vielleicht ist dies die erste Aufforderung an den Leser:

lies einfach!

 

Zu lesen bekommt man eine Geschichte voller Rätsel, Zufälle und Dummköpfe, voller Handlung und voller Ironie, bisweilen politisch unkorrekte Bemerungen über Männer und Frauen und Überlegungen zu den Einflüssen verschiedener Mentalitäten.

 

Man bekommt nicht: philosophisch klingende Halb-und Binsenweisheiten, Romantik und große Gefühle, schlaue Schlussfolgerungen, Einblicke in Systeme oder den großen Überblick des Autors.

 

Man kommt in den Genuss eines Buches, das von Beschreibungen lebt, willkürlich gewählt sei hier eine Passage aus der Mitte des Buches:

 

"Angemessen demütig und doch auch eilig öffnete Canisades die Tür zum größten Raum des Präsidiums. Unter rot und gold gestickten, aufwendig gerahmten Koranversen saß ein 200-Kilo-Mann, der Polizeigeneral. Sein birnenförmiges Gesicht wiederholte sich in der Körperform auf erstaunliche Weise: Bauplan und Ausführung. Schmale Äuglein unter spärlichen Augenbrauen, kleine Nase und ein Mund, dessen fleischige Unterlippe von der Schwerkraft so weit herabgezogen wurde, dass eine Reihe weißer Mausezähne ständig sichtbar war...."

 

Man sitzt diesem Mann persönlich gegenüber, kann nicht anders, als sich ein bisschen kleiner zu machen, um ihm den Raum zu geben, den er einnimmt und versucht, möglichst flach zu atmen.

 

Oder eine ganz andere Passage:

 

"Sie fragten, was ein Auto und ein Boot gemeinsam hätten, und gaben ihm Stromschläge. Sie fragten, was er in Tindirma gemacht habe und ob er sich an den Tyrannen von Akragas erinnere, und ließen ihn in Dreizehnerschritten von tausend zurückzählen. Und gaben ihm Stromschläge. Sie wollten wissen, ob er in der Wüste ausgestiegen sei und mit wem er sich getroffen habe. Und gaben ihm Stromschläge. Sie fragten nach dem Namen seiner Frau. Sie fragten, ob er den Witz mit dem Skelett in der Höhle und den Geheimdiensten kenne und warum er Helen an der Tankstelle angesprochen habe und nicht das deutsche Pärchen im VW-Bus..."

 

Carl (Cetrois?) ist kein Held, auch wenn er die Folterungen überlebt, was ein Wunder ist. Den Roman überlebt er nicht.

Ganz am Ende greift der Zufall, der sowieso die ganze Zeit sein fieses Spiel mit allen treibt, noch einmal ganz unbarmherzig an, denn ein Halbverrückter will auch noch mitmischen in diesem Roulette, das sich Leben nennt.

 

Ein ungeschickter Autor, einer ohne Weitblick, Distanz und Humor hätte aus diesen Zutaten einen ganz schlechten Roman zusammenstricken können.

Herrndorf hat einen großartigen geschrieben.

 

 

 

 

 

Wolfgang Herrndorf: Sand

Rowohlt Verlag, 2011, 480 Seiten

Rowohlt-Taschenbuch, 2013, 480 Seiten