Andrea Abreu - So forsch, so furchtlos

"Ich fragte mich, woher sie so viele Dinge wusste, die ich nicht wusste, und dann wurde ich traurig, weil ich dachte, dass meine Traurigkeit gar nicht meine eigene war, dass ich ihre Traurigkeit spürte, bloß in meinem Körper, eine wie nachgemachte Traurigkeit, zwei verdoppelte Traurigkeiten, die falsche Hülle einer Traurigkeit, das war ich..."

 

 

Diese Worte stammen von Sis, der Ich-Erzählerin. Sie spricht von ihrer Freundin Isora, jenem Mädchen, das "so forsch, so furchtlos" ist. Nicht immer, auch sie hat Momente des Zweifels und der Angst, doch in der Regel ist sie die Voran-gehende und Tonangebende. Sis macht alles, was Isora will, "ohne Wenn und Aber, als wäre ich ein Ken und sie eine Barbie, die Schläge austeilt."

 

Die beiden sind zehn Jahre alt, leben in einem Bergdorf auf Teneriffa, weit weg vom Meer, von dem sie nur träumen können. Einmal im tollen BMW dorthin brausen, wie die Touristen, deren Landhäuser Sis´ Mutter putzt, das wär´s.

Ihr Vater arbeitet auf dem Bau im Süden der Insel, doch das Geld reicht trotzdem vorn und hinten nicht, jeder Einkauf im Dorfladen wird erstmal angeschrieben. Dieser Laden gehört Isoras Großmutter. Sie führt ein strenges Regiment, Isora, die grundsätzlich kein Blatt vor den Mund nimmt, nennt sie immer nur "Bitch".

Das einzige, um das Sis Isora nicht beneidet, ist, dass "Isora keine Mutter hatte".

 

Der Roman erstreckt sich über die Zeit der Sommerferien.

Die Mädchen besuchen sich, spielen Barbie, vorzugsweise "versuchten Isora und ich immer, die Telenovelas oder die Lieder von Aventura nachzuspielen, und deswegen gab es so viele Katastrophen."

Die beiden sind mitten in der Transformation vom Kind zur Frau, zwischen Puppenspiel und erwachender Sexualität. Isora geht auch hier deutlich voran. Sie hat schon ihre Periode, stachelige Schamhaare, sie gibt sich in einem Chat für 25 aus, sie schreckt nicht davor zurück, einem Jungen ins Gebüsch zu folgen, bekommt überhaupt immer, wenn es um "Schweinkram" geht, glänzende Augen. 

 

Andrea Abreu, geboren 1995 auf Teneriffa, 2021 zu einer der besten jungen spanischsprachigen Romanautor*innen gekürt, verklärt die Zeit des Erwachsenwerdens in keiner Weise.

Der Körper mit all seinen Funktionen nimmt breiten Raum ein. Es wird gekotzt, gekackt, Scheiße von Hunden oder Hexen muss weggeputzt werden, Isora pinkelt in den Kanal, der den Mädchen als Ersatzstrand oder Strandersatz dient.

Isora wird von ihrer Großmutter regelmäßig auf Diät gesetzt, weil sie schon so dick ist, dann muss Sis an ihrer Stelle essen, Isora genießt es, ihr dabei zuzuschauen.

 

Dünn sein wollen sie, dann hat man Glück im Leben, das haben sie von den Telenovelas gelernt, die ohne Unterlass überall angeschaut werden.

Hier sind sie Kinder ihrer Zeit - der Roman spielt in den Nullerjahren - doch vieles in der Geschichte erscheint archaisch.

 

Von einer überzeitlichen Wucht ist das Verlangen nach Isora, das Sis immer mehr ergreift. In zwei atemlosen Kapiteln geht Andrea Abreu ganz explizit, buchstäblich ohne Punkt und Komma, darauf ein. 

"... ich wusste nicht wo die grenze zwischen mir und isora war manchmal dachte ich wir sind dasselbe mädchen ... ich wollte isoras kopf einsaugen um sie in meinem körper zu haben wie das schwangere mädchen ... isora darin isora wie sie mir von innen den bauch küsst ich hab isora zum fressen gern will sie aufessen und ausscheißen damit sie mir gehört die kacke aufbewahren in einer schachtel damit sie mir gehört ..."

 

Am Ende, nach einem hochdramatischen Ereignis, geht Sis jedoch alleine in Richtung Meer:

"So weit war ich noch nie gekommen. In der Ferne, ganz unten, leuchtete die Septembersonne. ... Alles leuchtete und war warm, man sah den Strand, ganz nah. Die Hunde bellten. Die Sonne spaltete die Steine."

 

Sis muss lernen, dass Erwachsenwerden nur alleine geht. Dass sie nicht nur Teil eines "Zweierpacks" ist.

 

In den Figuren der Großmutter Isoras oder der Eltern und anderen Verwandten Sis´, in diversen Dorfbewohnern jeden Alters, spiegelt sich die Lebensrealität der Mädchen.

Und damit die Wirklichkeit der spanischen Touristeninsel.

Im Brennpunkt stehen aber die Freundschaft und die Entwicklung der beiden Protagonistinnen.

Andrea Abreu setzt die Welt der Mädchen durch die Augen der Ich-Erzählerin Sis zusammen, diese Unmittelbarkeit verleiht dem Roman eine große Wucht.

Sie sucht ihresgleichen in der Literatur, diese junge weibliche Stimme Spaniens ist eine neue, authentische.

Hier erinnert absolut nichts mehr an all das, was die Figur der frühreifen Lolita transportiert.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Andrea Abreu: So forsch, so furchtlos

Aus dem Spanischen von Christiane Quandt

Kiepenheuer & Witsch, 2022, 192 Seiten

(Originalausgabe 2020)