Simonetta Agnello Hornby - Er war ein guter Junge

Abwesende Väter, ehrgeizige Mütter, ein Klima des Aufbruchs in Sizilien ab den 1960er Jahren mit einem unkontrollierten und irrwitzigen Bauboom, Familien, die wissen, wie man sich Vorteile sichert, auch wenn es Menschenleben kostet - in dieser Welt wachsen Giovanni und Santino heran.

Und werden von ihr zermahlen.

 

 

Santinos Vater Pippo war ein erfolgreicher Stoffhändler, bis das Geschäft zugrunde geht und er Verzweiflung und Scham im Alkohol ertränkt. Seine Mutter Assunta, wesentlich jünger als ihr Mann und so attraktiv wie zielstrebig, hat daraufhin stets einen Mann an ihrer Seite, der sie unter-stützt - ein Zustand, der Santino zunehmend unangenehm ist. Schon in jungen Jahren schwört er, für sie zu sorgen und sie damit unabhängig von Gefälligkeiten gegenüber diesen Männern zu machen.

 

Giovanni wächst nach dem Tod seines Vaters, da ist er vier, in einem kleinen Dorf  bei seinen Großeltern auf. Als er elf ist und auf die weiterführende Schule gehen soll, zieht er um zu seiner Mutter Cettina, die in der nahegelegenen Stadt Sciacca wohnt. Bisher sah er sie nur wenige Male im Jahr, er fühlte sich wohl bei den Großeltern, vor allem sein Großvater formte mit seinen fantasievollen Erzählungen über Dorf und Insel sein Weltbild.

 

Wie Assunta pflegt sie Bekanntschaften zu Männern, die ihr und vor allem Giovanni von Vorteil sind. Sie baut im Lauf der Jahre ein Netz an Verbindungen auf, will sie doch ihren viel-versprechenden, intelligenten und fleißigen Sohn, der auf ihren Wunsch hin Anwalt wird, nach Kräften unterstützen.

 

Die beiden Frauen begegnen sich immer wieder, schließlich sind ihre Söhne unzertrennlich.

"Unsere Söhne gehen zu Schule, ... aber wenn sie ihren Uniabschluss haben, sollten wir ihnen neue Wege eröffnen, die sie sich wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können. Wir dürfen uns nicht einfach so zufriedengeben. ... Ich werde das Menschenmögliche tun, und auch das Unmögliche. ...

Eindeutig standen sie auf derselben Seite, als Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft würden sie den einzigen Männern zum Triumph verhelfen, an denen ihnen noch etwas lag: ihren Söhnen. Und durch sie würden auch sie selbst, jede auf eigene Weise, ihren Platz finden."

 

Santino fängt schon an, auf Baustellen zu arbeiten, als er noch das Gymnasium besucht, um etwas Geld nach Hause zu bringen. Er ist sehr interessiert, lernt schnell, und findet in seinem Nachbarn, dem Bauunternehmer Rigona, auch einen Förderer. 

Eines Tages wird Santino völlig unerwartet abgeholt und nach Agrigent gefahren. Er trifft dort einen Mann, Schwer-gewicht der Baubranche:

"Mach erst mal die Schule fertig.  Mit Baustellen kennst du dich ja schon aus und wirst bald deine eigene haben. Doch du musst genau hinsehen. Boden gibt es reichlich ...

Du weißt, was du tun musst: bauen, und wenn sie dir ein Projekt anbieten, unterschreiben, und wenn du unterschrie-ben hast, den Beton gießen. Du gießt den Beton überallhin, wenn sie das wollen. Und natürlich alles nach den Regeln der Kunst. ... Aber die Regeln bestimmst nicht du, verstehst du?"

 

Santino macht eine glänzende Karriere in der Bauwirtschaft. Giovanni wird gleich nach dem Examen Partner in einer der angesehendsten Kanzleien Palermos. Beide heiraten, Santino die Enkelin der Rigonas, Giovanni eine Frau aus dem Norden, die seine Mutter für ihn ausgewählt hat. Sein Herz gehörte der Mitstudentin Anna, die jedoch nicht nur Recht studierte, sondern auch für die Gerechtigkeit kämpfte. Doch nicht nur seine Mutter legt ihm nahe, diesen Umgang aufzugeben, eine solche Frau würde seine Karriere von vorn herein unmöglich machen. 

Beide bauen sich schöne Häuser, nicht ohne die kräftige Mitsprache der Mütter, die niemals ihr Versprechen, für die Söhne zu kämpfen, vergessen. 

 

Es scheint unausweichlich, dass beide, der Baulöwe wie der Anwalt für Baurecht, mit den "Familien" in Kontakt kommen, an deren "Tischen" alles entschieden wird.

 

So wird auch Giovanni unvermittelt abgeholt und nach Agrigent gebracht. Er trifft jenen Mann, von dem ihm Santino erzählt hatte.

 

"Bald werden Leute zu dir kommen, für die du Probleme lösen sollst.  ... Wenn du etwas für sie tust, soll es nicht zu deinem Schaden sein, es sind Ehrenmänner. ... Ehre, Höflichkeit, gegenseitige Gefallen, das verbindet uns. Aber die Zeiten sind schwierig geworden. Die Familien verstehen sich nicht mehr. Doch wenn Blut fließt, trocknet es auch wieder."

 

Giovannis Reaktion:

"In diesem Moment akzeptierte er sowohl seinen Schutz als auch seine Aufträge, und über beides konnte man nicht diskutieren: Das war ja gerade das Zeichen echter, unmiss-verständlicher Macht, dass es nichts zu diskutieren gab. ..."

 

Simonetta Agnello Hornby, 1945 auf Sizilien geboren, und damit nur ein wenig älter als ihre beiden Helden, entwirft in ihrem Roman ein prächtiges und farbenfrohes Bild der Insel.

Sie entwickelt lebendige Charaktere, neben Santino und Giovanni gewinnen vor allem die Mütter Assunta und Cettina Kontur. Aber auch die Nebenfiguren werden präzise skizziert. 

Durch dieses Porträt des Landes und der Gesellschaft weht ein Dunst, der nicht anfängt und nicht aufhört, es ist ein Luftzug namens Mafia. Das Wort fällt keine drei Mal in diesem Roman, aber er ist davon geprägt, denn es ist klar,

die richtigen Leute zum Essen einladen, Verbindungen herstellen oder auch abbrechen, alles was dazu dient, eine Karriere zu fördern, hängt letzten Endes von der Zustim-mung der richtigen Leute ab. Und diese gehören einer der wichtigen Familien der Insel an.

 

Diese Unausweichlichkeit akzeptieren alle, auch wenn sich der eine oder andere immer wieder fragt: was ist aus mir geworden?

Giovanni beantwortet diese Frage in einem Brief an Santino ganz eindeutig:

"Wir sind zu Mördern geworden. So ist es."

 

Simonetta Agnello Hornby zeichnet mit den Lebenswegen der beiden `guten Jungs´ auf, wie der Wunsch, es im Leben zu etwas zu bringen, in eine Mühle aus Korruption führt.

Weder Santino noch Giovanni sind Mörder im Sinne des Gesetzes, doch beider Schuld wiegt schwer.

Auch die der Mütter. Oder ist es allein die der "Familien"?

 

 

 

 

 

 

 

 

Simonetta Agnello Hornby: Er war ein guter Junge

Aus dem Italienischen von Christine Ammann

Folio Verlag, 2025, 263 Seiten

(Originalausgabe 2023)