Hannah Arendt - Die weisen Tiere
mit Illustrationen von Hildegard E. Keller

Man kennt die Philosophin
Hannah Arendt als messerscharfe Analytikerin und Denkerin, nicht aber als phantasievolle und verspielte Märchenautorin. Doch auch das war sie! In ihrem Märchen stellt sie ein kleines Mädchen in den Mittelpunkt, das eine weite weite Reise unternimmt, dabei vielen Tieren begegnet und am Ende dem Glück.
Die Schriftstellerin Hildegard E. Keller stieß bei der Recherche für ihren Roman Was wir scheinen im Nachlass Arendts auf diesen Text, "getippt auf Luftpostpapier, manche Blätter beidseitig beschrieben." Nun hat sie zu Pinsel und Farbe gegriffen, und die märchenhafte Liebesgeschichte fabelhaft illustriert.
"Es war einmal ein kleines Mädchen, das lebte in einem kleinen Dorf, wo alle Menschen sehr viel arbeiten mussten. Und weil es noch so klein war und noch nicht richtig arbeiten konnte, ließ das Dorf das kleine Mädchen die Gänse hüten...."
So beginnt das Märchen um die Gänsehüterin, die mit wehenden Zöpfen und rotem Kleidchen zwischen ihren Schützlingen zu sehen ist. Große, schöne Gänse sind es, zwischen die sich eines Tages eine Gans mit viel größeren Flügeln schleicht. Doch nicht nur das, sie trägt einen schwar-zen Fleck auf der Brust. Das ist nicht das einzig Besondere an ihr: sie kann fliegen! Das kann keine normale Gans sein!
Damit kommt das Märchen in Schwung. Das Mädchen setzt alles daran, die Gans zu finden. Sie nimmt sich ein Flugzeug. Geld, um den Piloten zu bezahlen, hat sie, kann man doch wegen des Krieges weder gute Schokolade noch Bonbons kaufen. Sie bittet ihn, der Gans zu folgen.
Hier blitzt die Realität durch: man kann nur mit dem Flugzeug reisen, wenn man Geld hat. Und: es herrscht Krieg.
Das Flugabenteuer endet mit einem Absprung per Fall-schirm. Sie landet in einem großen Wald, dort, wo die weisen Tiere wohnen, die ihr hoffentlich helfen können, ihre Gans zu finden.
Traumhaft schöne Blumen, Bäume, die Gesichter zu haben scheinen und sprechende Tiere - in dieser Welt ist sie nun.
Sie begegnet dem "Löwen, der neben dem Lamm liegt", jener biblischen Vorstellung von allumfassendem Frieden.
Sie begegnet dem weinenden, vor Selbstmitleid zerfließen-den Mondkalb, Sinnbild eines einfältigen Menschen.
Die Schlange verrät ihr sogleich, dass "alle bösen Gedanken von mir (kommen), weil ich so gut tuscheln kann."
Der riesige Fisch Leviathan steht für Ordnung, das Kamel, das auf Geheiß Gottes heftige Abmagerungskuren macht, damit es durch das berühmte Nadelöhr passt, repräsentiert Gehorsam, der weiße Elefant ist die Freundlichkeit in Person. Schließlich ist er "der Elefant von dem Karussell aus dem Luxembourg-Garten in Paris. Ich bin extra für Kinder geschaffen worden, und nur Dichter haben noch ein richtiges Verständnis für mich gehabt. Die Dichter sagen von mir: `Und hie und da ein weißer Elefant.´ Siehst du, der Elefant bin ich."
So nutzt Hannah Arendt die dem Märchen bzw. der Fabel eigene Möglichkeit, Eigenschaften in Tiere zu legen, und damit Menschen zu charakterisieren.
Das kleine Mädchen lernt so im Verlauf seiner Reise die unterschiedlichsten Typen kennen und es lernt, wem es vertrauen kann, und vom wem es besser schnell Abschied nimmt.
Das außergewöhnlichste Tier ist der Pegasus, das geflügelte Pferd, Dichterross bzw. Sinnbild der Dichtkunst.
"Auf meinem Rücken sind schon viele geritten; und noch mehr haben gerne mal heraufgewollt. Aber ich schüttele alle ab, die nicht Kinder sind oder Dichter."
Vielfältig sind die Hinweise und Verknüpfungen zur Geistes-geschichte, die Hannah Arendt einbaut.
Vielfältig auch die Illustrationen. Als der Pegasos mit dem Mädchen auf dem Rücken aufbricht, um ins Land der Wild-gänse zu fliegen, herrscht dunkelblaue Nacht. Der Uhu auf seinem Baum schaut etwas skeptisch ob des Vorhabens der beiden. Auf einem Bild sind Pegasos und Mädchen von hinten zu sehen, es wirkt, als ob die Flügel die des Mädchens wären. Ja, auch ihr sind Flügel gewachsen auf dieser Reise ins Ungewisse!
Wie schön, dann endlich anzukommen bei den besonderen Gänsen, die alle irgendwo einen Fleck tragen. Schnell ist die mit dem besonders schönen Fleck gefunden, der dann plötzlich "Knopf" heißt:
"Schließlich fasste sich das kleine Mädchen ein Herz und drückte einmal kräftig auf den schwarzen Knopf auf der weißen Brust."
Was dann passiert, verschweige ich. Nur soviel: es fliegen viele Federn und der freundliche Elefant bringt sie ins Menschenland zurück.
Mit fliegenden Ohren und großen, erstaunten Augen kommt er in einem sehr kleinen Auto angefahren, es wäre jetzt eine zu harte Landung im Land der Vernunft, würde man fragen, wie in dieses Auto noch jemand reinpassen soll....
Das Märchen, der "einzige literarische Prosatext" Hannah Arendts, lebt von einem Spiel zwischen Ironie und Phantasie auf der einen, und Logik und Realität auf der anderen Seite.
Man kann ihn als autobiografischen Text lesen, als Abrech-nung mit ihrem ehemaligen Geliebten Martin Heidegger, als Reflektion auf ihre Emigration nach Paris (der Elefant ent-stammt Rilkes Gedicht "Das Karussell"), man kann Anklänge an "Nils Holgersson" darin finden.
Jeder und jede Leser:in wird aus diesem Text etwas anderes herauslesen. Mir gefällt er am besten als ein Märchen, das bunt und frei ist, en passant die Zeit aushebelt, das ein starkes, schlaues und mutiges Mädchen in den Mittelpunkt stellt, dem ein happy end vergönnt ist.
Die phantasievollen und zugleich durchdachten Bilder Hildegard E. Kellers verbinden sich mit dem Text, sie unterstreichen seine Leichtigkeit, seinen Ernst, seinen sound.
Wann genau das Märchen geschrieben wurde, weiß man nicht. Das ist auch nicht so wichtig, wichtig ist seine Zeitlosigkeit.
Hannah Arendt (Text) & Hildegard E. Keller (Illustration): Die weisen Tiere
edition maulhelden, 2025, 96 Seiten, durchgehend vierfarbig