Dorothy Baker - Zwei Schwestern

"Wenn sie weg ist, bin ich nur die Hälfte von dem, was wir sind."

Dieser Satz von Cassandra Edwards könnte der Untertitel des 1962 entstandenen Romanes sein. Sie sagt ihn zu ihrer Analytikerin, und "sie" ist ihre Zwillingsschwester Judith. 

Judiths Hochzeit stürzt Cassandra in eine existentielle Krise, doch genau besehen, befindet sie sich in dieser schon ein Leben lang.

 

Cassandra und Judith, auch Cassie und Judy genannt, sind vierundzwanzig Jahre alt. Bis vor neun Monaten lebten sie zusammen in einem Appartement in Berkley, wo beide das College besuchten, dann zog Judy nach New York.

Zum ersten Mal in ihrem Leben sind sie getrennt, für Cassie ein Zustand, den sie kaum ertragen kann.

 

Zu Hause sind die beiden Schwestern auf einer Ranch, fünf Autostunden von Berkley entfernt. Dorthin fährt Cassie am Vortag der geplanten Hochzeit Judys. Auf der Ranch leben der Vater, ein Philosophieprofessor, der seine Stelle jedoch kurz nach der Geburt seiner Töchter aufgab, seitdem lebt er ganz für die Philosophie und Five-Star-Hennessy.

Außerdem die Großmutter, das ist die Mutter der drei Jahre zuvor verstorbenen Jane, eine Schriftstellerin, Mutter von Cassie und Judy. 

 

Cassie hat sich ein schönes Kleid gekauft für die Hochzeit,

sie möchte der Großmutter einen Gefallen tun - Granny legt immer großen Wert darauf, dass alles so ist, wie es sich gehört.

Die Familie hatte nie groß Kontakt zur Außenwelt.

Sie genügte sich selbst und hielt sich im übrigen auch für etwas Besseres als andere Leute.

 

Innerhalb dieser Familie waren die Zwillinge immer ganz extrem aufeinander bezogen. Und kämpften zugleich darum, als Einzelpersonen wahrgenommen zu werden. Nie trugen sie gleiche Kleider, Cassie konnte schon immer gut mit Worten umgehen (deshalb möchte sie auch Schriftstellerin werden), Judy ist Musikerin, sie spielt Klavier. Judy ist die Entspannte, Cassie die Angespannte - gewisse Rollen und Eigenschaften sind verteilt.

 

Am Vorabend der Hochzeit - d.h. dem Wiedersehen der Schwestern - bricht jedoch dieser Konflikt des gleichzeitigen Zueinander- und Auseinanderstrebens voll aus. Cassie fühlt "dieses uralte Einssein," sie ärgert sich zugleich über Judys mütterliche Fürsorge und sie ist bestürzt, als sie sieht, dass zufälligerweise beide das gleiche Kleid für die Hochzeit gekauft haben.

Die Braut und die Brautjungfer.

Granny ist entzückt, hat sie doch schon immer dafür plädiert, dass die Mädchen ihr Zwilling-Sein betonen und nicht ihre Individualität.

 

Um diesen Kampf dreht sich der Roman. Ich kenne kein anderes Buch, das den Konflikt einer Person, die es quasi zweimal gibt, so tief durchleuchtet.

Die sich bei jedem Blick in den Spiegel die Frage stellt:

Bin ich das? Und die sich nur zusammen mit der anderen als vollständig empfindet. Oder gerade versucht, diesem Gefühl zu entkommen.

 

Judy ist nun diejenige, die den Bund verlassen möchte, sie hat in New York einen jungen Arzt kennen gelernt - Cassie weigert sich sogar, sich seinen Namen zu merken.

Sie überredet in der Nacht vor der Hochzeit Judy, die Sache platzen zu lassen. Sie selbst würde Jack erklären, dass Judy es sich anders überlegt hat.

Am Tag darauf stellt sich die Frage, mit wem Cassie dieses Gespräch geführt hat, bzw wer die Zustimmung gab.

War es wirklich Judy, oder hat Cassie das mit sich selbst besprochen, wie so oft?

 

Dies ist ein weiters Thema des Buches: die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen. Im Grunde erscheint die Vergangenheit genauso nebulös wie die Zukunft, eben weil es nichts Flüssigeres gibt als das menschliche Gehirn.

Heute weiß man genau, wie Erinnerungen abgespeichert und ständig umgebaut werden, Anfang der 60er Jahre war diese Erkenntnis noch nicht naturwissenschaftlich untermauert.

 

"Ich war eingeladen, weil ich das Ganze noch rechtzeitig stoppen, weil ich in letzter Minute Rettung bringen sollte." 

"Also, wir haben es akzeptiert. Wir haben uns gestern Abend entschieden. Wir bleiben zusammen."

"Wir hätten schon die ganze Zeit eine Person sein sollen, nicht zwei, und auf diese Weise würde die andere es ausleben können.."

Die Gedanken Cassies kreisen um das Einssein.

 

Judy hingegen heiratet Jack noch auf dem Weg vom Flugplatz, wo sie ihn abholt, zur Ranch. Sie will nicht, dass noch irgendetwas dazwischen kommt.

 

Während dessen nimmt Cassie eine Überdosis Schlaftabletten. Der nette junge Arzt, dessen Namen sie sich nicht merken kann, rettet ihr das Leben. Stundenlang kämpft er um sie, so auch in einer Szene, die sehr erotisch aufgeladen ist. Nackt hat er Cassie im Bett vorgefunden, er nimmt sie in die Arme, beugt sich über sie und führt eine Mund-zu-Mund-Beatmung durch, die Judy erschüttert, weil sie sie zunächst nicht als solche erkennt.

 

"Jack hielt Cass, die natürlich immer noch nackt war, tief hintübergeneigt im Arm und beugte sich seinerseits über sie wie ein Vampir oder ein dämonischer Liebhaber, seinen Mund auf ihrem, besessen und besitzergreifend. ... die ganze Szenerie wurde zu einem Albtraum, aus dem ich nicht erwachen und gegen den ich nichts tun konnte - mein Mann verrückt geworden, meine Schwester bewusstlos, aber innig miteinander verbunden, die zwei."

 

Cassie überlebt, Jack ist fortan der "Wichtigtuer, der immer alles richtig macht" für sie, aber sie "verzeiht ihm."

 

An drei Stellen im Roman taucht die Golden Gate Bridge auf: ganz am Anfang, als Ausblick aus dem Fenster eines Hörsaales, also bevor Cassie losfährt zur Ranch, dann in der Mitte, als sie erzählt, ihre Analytikerin habe sie davor bewahrt, sich von der Brücke zu stürzen, und ganz am Ende, als Cassie nach der überstandenen Hochzeit und dem überlebten Selbstmordversuch über die Brücke geht, und stellvertretend für sich eine Socke über das Geländer wirft.

Die Brücke als Symbol für Verbindung verknüpft die drei Teile des Romans, weist hier aber auch darauf hin, dass nur zwei Dinge, die getrennt sind, verbunden werden können. Was für mich die Frage bedeutet, ob es Cassie gelingen wird, sich von Judy zu trennen und eine eigene Identität außerhalb des Zwillingsbundes zu finden.

Diese Frage bleibt unbeantwortet.

 

Dorothy Baker blickt ihren Figuren tief in die Seele, sie sind so vielschichtig angelegt und in ihrem Ringen so verzweifelt und auf völlig unsicherem Boden stehend, dass ganz elementare Wahrheiten poetisch sichtbar gemacht werden.

Sie spitzt die Mühen der Identitätsfindung zu, indem sie eineiige Zwillinge wählt, für die dies per se doppelt so schwierig ist. Sie zeichnet aber auch den Vater oder Granny so präzise, mit großer Empathie und einem unglaublichen Gespür und Geschick für Dialoge, dass mit diesen Personen der Reigen um viele Nuancen erweitert wird. 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dorothy Baker: Zwei Schwestern

Übersetzt von Kathrin Razum

dtv, 2015, 280 Seiten

dtv Taschenbuch, 2017, 280 Seiten

(Originalausgabe 1962)