Alan Bennett - Drei daneben

Alan Bennett wurde den deutschen LeserInnen durch sein charmantes, schlitzohriges und hintersinniges Buch "Die souveräne Leserin" bekannt. Nun liegen vier neue Geschichten vor, die nach Art der Talking Heads verfasst sind und der berühmten `souveränen Leserin´ in keiner Weise nachstehen. In diesen kurzen Monologen erfindet der unvergleichliche Alan Bennett neue Welten, die so absurd wie real, unterhaltsam und bedenkenswert sind. 

 

Die erste Geschichte, "Eine gewöhnliche Frau", dreht Racines Phèdre eine Umdrehung weiter. Verliebt sich bei Racine eine Frau in ihren Stiefsohn, ist es bei Bennett eine Mutter, die sich in ihren fünfzehnjährigen Sohn verliebt. 

Das ist die deutlich schwerwiegendere Variante, kleinbürger-liche Moralvorstellungen geraten nicht nur ins Wanken, sondern aus den Fugen. Die Situation ist weder zu ertragen, noch zu lösen.

 

"Ich verstehe, dass man sich leicht zum Beispiel in einen Stiefsohn verlieben kann, in jemanden, der zur Familie dazugekommen ist, aber nicht in sein eigenes Kind. Ich dachte, das wäre angeboren. Ich liege auf seinem Bett, mit all seinen Sachen auf mir drauf. Ich glaube, ich habe tatsächlich gerade auf seinem T-Shirt rumgekaut, als ich von unten was gehört habe, und das war unsere Maureen...", so die Mutter, die auch das Gefühl hat, "gar kein Recht auf so eine  ... hm. ... Leidenschaft" zu haben. "Das ist so erhaben. So Shakespeare."

 

Bennett entrollt hier nicht nur eine Mutter-Sohn-Beziehung innerhalb der gesamten Familienkonstellation, er zeichnet einen Menschen sehr menschlich. Dieser hat sein erlerntes Moralgerüst, das stellt er nicht in Frage, aber er kann auch nicht damit umgehen. 

Bennett zeigt die Reaktionen und Handlungen von Michael, Maureen und "Dad", dem Ehemann, der wie die geplagte

Ich-Erzählerin keinen Namen hat.

Wie einen Ausweg aus dieser Tragödie finden? 

 

Man erinnere sich an den Titel der Geschichte:

"Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr finde ich - Ich bin eine ganz gewöhnliche Frau."

 

Nun ist es die Aufgabe der LeserInnen die Geschichte fortzuspinnen, sie endet nicht mit der letzten Zeile. 

 

Ebenso hintersinnig wie tiefgründig und zementierte Anschauungen gegen den Strich bürstend, sind die drei weiteren Monologe dieses Bandes.

Der einer Frau, die für ihren tödlich verunglückten Mann einen "Schrein" am Straßenrand errichtet und lernt, dass es neben "Clifford" auch noch einen "Cliff" gab.

Der von "Muriel", die nach sechsundfünfzigjähriger Ehe neue Gefühle in sich entdeckt, oder die ein Tabuthema berührende letzte Geschichte des Bandes, die von Begierde, Lust und Scham, Bevormundung und der Behandlung alter Menschen  handelt.

 

Alan Bennetts Blick hinter die Kulissen der bürgerlichen Normalität, direkt in die Seelen normaler Menschen, in denen so vieles nicht der Norm entspricht, zeigt einen großen Menschenkenner und Menschenliebhaber und einen Schriftsteller, der es schafft, die komplexesten Themen auf wenigen Seiten zu durchleuchten. Im Falle "Muriels" auf  nur gut einer Seite: konzentrierter geht es nicht.

 

Den Geschichten Bennetts ist ein einführender Text von Nicholas Hytner beigegeben, in dem er erzählt, wie er während des ersten Lockdowns 2020 aus den Geschichten Alan Bennetts zwölf Einzelfilme innerhalb von zehn Wochen für die BBC produzierte. Teilweise ältere Texte von Alan Bennett, zum Teil auch neue oder überarbeitete - jeder einzelne ist ein Konzentrat in Form, Stil und Aussage.

 

Interessant ist die Beschreibung dieser Produktionen, von der Suche nach Schauspielern, Regisseuren, Komponisten,  Maskenbildnern, Kostümen und was es sonst noch alles braucht, unter Lockdownbedingungen.  

 

Interessant ist aber auch, was Hytner über die Kunst der Talking Heads schreibt:

 

"Die Talking Heads sind auch deshalb anerkannte Meister-werke ihres Genres - des Fernsehmonologs -, weil sie ihr Publikum auffordern, die Geschichte selbst zu vervoll-ständigen."

 

Und speziell über Alan Bennetts Kunst:

"Wie alle wirklich guten Schriftsteller schafft auch Alan eine Welt, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert und zugleich ein Spiegelbild der Wirklichkeit zu sein scheint. ... Es stimmt, dass die meisten dieser Stücke in Yorkshire wurzeln, aber sie sind auch das vollkommene Destillat sowohl von Alans Stil als auch seiner wichtigsten Anliegen als Autor."

 

Um sich ganz präzise auszudrücken, sucht Bennett nach dem perfekten Rhythmus, der richtigen Melodie, dem richtigen Wort. Häufig erfindet er diese, bzw es sind Worte, die aus der Familiensprache stammen oder einen regionalen Bezug haben. Diese Präzision, die eigenwillige Sprache und der Ideenreichtum verleihen den Texten Alan Bennetts ihre Unverkennbarkeit und Originalität.

 

Und Ingo Herzke hat diese Originalität in seiner den Schwung und den Geist des Originals mitnehmenden Übersetzung trefflich bewahrt, sie ist sehr gut gelungen.

 

Zu erwähnen sind auch noch die jeder Geschichte beigegebenen Einführungen, die Hinter- oder Beweggründe aufzeigen, einstimmen, weiterspinnen und auch einfordern - dieser Band lässt keine Wünsche offen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alan Bennett: Drei daneben

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

Mit einer Einführung von Nicholas Hynter

Wagenbach Verlag, 2022, 144 Seiten

(Originalausgabe 2020, bzw 2015)