Silvia Bovenschen - Nur Mut

Der Ort: eine Villa am Fluss.

Die Zeit: ein Tag, kürzlich.

Die Personen: vier alte Damen.

(Zwei junge Leute, ein Mann, die Köchin, merkwürdige Gäste).

Die Handlung: ein Mord.

Bovenschens Roman ist ein klassisches Drama. Ein Drama ums Alter, den Verlust der Zukunft und sämtlicher Sicherheiten, Betrug, Rache und Befreiung. Ganz große Bühne also.

 

Charlotte ist emeritierte Paläontologin, schwerreich von Geburt und gut verheiratet gewesen. Sie ist die "Chefin". Johanna ist Schriftstellerin, Leonie war Lehrerin, die Vierte im Bunde ist Nadine, die in der Modebranche tätig war.

 

Diese Damen, alle um die achtzig, leben zusammen in Charlottes komfortabler, geräumiger und geschmackvoller Villa. Eine jede hat ihr Zimmer, der Salon wird für Zusammenkünfte genutzt, der Blick geht auf einen Fluss - alles könnte gut sein. Wäre da nicht das Alter und die damit verbundenen Malaisen.

 

Am Tag des Geschehens befindet sich noch Dörte in der Villa, Charlottes Enkelin, "eine ratlose Göre von ratlosen Erzeugern bei der Vorgängergeneration geparkt", sowie Flocke, ein junger Mann, der Dörte anbetet, schrecklich unter Zahnschmerzen leidet und an diesem Tag Dörte besuchen darf.

Die Beiden haben mit der eigentlichen Geschichte nichts zu tun, werden auch vor Erreichen des Höhepunktes aus dem Haus entfernt, sie erweitern aber das Tableau der Ratlosen um eine Generation.

 

An dem Tag, an dem der Roman spielt, erwarten die Damen Herrenbesuch. Herr von Rungholt hat sich angekündigt.

Es liegt eine gewisse Spannung in der Luft. Johanna hat zum ersten Mal seit Ewigkeiten ihr Zimmer verlassen, Nadine hat sich ein wenig herausgeputzt, Leonie hat eine feine Torte besorgt.

Die Wartezeit verbringen die Frauen - sie Freundinnen zu nennen, wäre übertrieben - zusammen im Salon. Nadine hat gerade erst eine schlechte Diagnose bekommen, der Tod steht plötzlich noch konkreter im Raum. Ein wenig verstummt deshalb die Ironie, die manchmal eher Sarkasmus ist, man versucht, Nadine zu trösten. Doch ein gewisser Zorn, bittere Einsichten oder schlichter Realismus sind immer mit von der Partie.

 

Durch Gespräche werden Erinnerungen geweckt, doch die Art, wie die Frauen darüber sprechen, ist meilenweit von Nostalgie entfernt. Hier geht es um das Wesentliche.

Um Trauer, die Seelen versiegelte, um Verluste, die in Jahrzehnten nicht verkraftet wurden, um Lebenslügen, Ausflüchte und Verrat, Mangel, Feigheit.

 

Als Herr von Runholt erscheint, verschwindet Charlotte sofort mit ihm in ihrem Arbeitszimmer. Nebenan hören die Damen immer wieder auffahrende Stimmen, sie gönnen sich alle ein Gläschen Grappa, Wein oder Champagner. Dem Knall des Champagnerkorkens folgt kurz darauf ein dumpfer Schlag aus dem Arbeitszimmer. Sekunden später stürmt Charlotte in den Salon, einen Schürhaken in der Hand.

 

Der langjährige Finanzberater Charlottes hat sie um ihr gesamtes Vermögen gebracht. Sie und mit ihr alle anderen stehen nun völlig mittellos da. Dafür musste von Runholt mit dem Leben bezahlen.

 

Was nun folgt ist eine Zerstörungs- oder Befreiungsorgie. Mit grimmigem Vergnügen, allen Anstand sausen lassend, schlitzen die Damen Teppiche auf, zertrümmern altes Porzellan, werfen Flaschen an die Wände etc. Es ist ein Infernal, denn nun hat endgültig die letzte Phase begonnen.

 

Diese wird begleitet von vier unerwarteten Gästen.

Einem Schwan, einem rundlichen Herrn, einem hübschen Mädchen und einem alten Hund namens Pluto.

Dieser gesellt sich zu Leonie, das Mädchen begleitet ab sofort Nadine, Johannas Gesellschafter wird der freundliche Herr und der Schwan - wen überrascht es - nimmt sich Charlotte an.

Die vier Gäste sprechen harte Wahrheiten aus, sie sind Fabelwesen, Archetypen, Botschafter des Jenseits, Projektionen, Phantasmen???

 

Der Schwan sagt: "Ja, ihr hättet mehr lachen sollen,wenn auch nicht so zwanghaft wie bei eurem furiosen Zerstörungsballett."

Und er endet:

"Das war der Höhepunkt der Show. Mehr haben wir nicht zu bieten. Jetzt ist es an euch. Nur Mut! Auf! Auf! Alle mal herhören. Das ist jetzt das Signal. Zeit zum Aufbruch. Macht euch frisch, packt eure Sachen und versammelt euch, stellt euch auf in Reih und Glied, die Zeit dieser endlosen Redereien ist vorüber, jetzt ist die Zeit zu gehen..."

Das tun sie dann auch, sie verschwinden im alten Benz Charlottes. Wohin? Das weiß niemand.

 

Der Roman ist eingebettet in zwei kurze vor- und nachgestellte Szenen, der Einführung und der "Auflösung" nach der Katastrophe: Jean, Drehbuchautor und Großneffe Charlottes, erzählt seiner Frau Mary, einer Journalistin, dass in der fernen Villa seiner Großtante eine verrückte Geschichte passierte. Der Roman erzählt eben diese Geschichte. Deren Ende überzeugt Mary nicht. Zu offen ist ihr der Ausgang, zu verworren.

Jean antwortet, in normalen Romanen würde "immer alles der Gewohnheit und der Wahrscheinlichkeit gemäß und plausibel und befriedigend und angemessen und leicht vorstellbar erklärt. Ich aber muss mir nur die Nachrichten eines einzigen beliebigen Tages vor Augen führen, um alles, wirklich alles unbefriedigend und absurd und allenfalls mit Mühe vorstellbar zu finden." 

Eine solche Nachricht ist der Tod des Unholdes.

 

 

Bovenschen hat sämtliche Mechanismen des Dramas benutzt. Und auch Elemente von Krimi und Märchen, sowie Philosophie und Soziologie in ihren Roman eingearbeitet, der dadurch sehr plastisch, spannend, nachdenklich und hintergründig wird. Und der ganz konsequent im Offenen endet, denn keiner kennt das Ende.

 

 

 

 

 

 

 

Silvia Bovenschen: Nur Mut

Fischer Verlag, 2013, 160 Seiten

Fischer Taschenbuch, 2015, 160 Seiten