Regina Dürig - Frauen und Steine

Erzählungen

"Wir sind doch alle eine Familie aus Abscheu und Wiederkehr. Wir bitten um nichts. Vermaledeien die Verhält-nisse und magern ab und dennoch, Jessie, bleibt uns der Stolz, bleibt uns der Stein."

Mit diesen Worten endet das Buch, endet die letzte Erzählung, die das späte Wiedersehen der Bildhauerinnen Camille Claudel und Jessie Lipscomb fiktionalisiert. Es liest sich wie ein Brief Camilles, in dem sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Klar und deutlich analysiert sie ihre Situation - die letzten dreißig Jahre ihres Lebens verbrachte sie in einer psychiatrischen Anstalt - und wie sie in diese geraten ist.

Sie schreibt, sie sei geheilt, sie schwört, "dass ich nie wieder etwas schaffen werde, von dem ich will, dass es eine Wahrheit ist." Jessie könne ihrem, Camilles, Bruder Paul "versichern, dass ich nicht einmal mehr ich selber bin. Also vollkommen geheilt."

 

Ist das der Weg, den eine Frau gehen muss, um nicht als verrückt zu gelten? Sich verleugnen, ihre Schaffenskraft begraben, ihre Freiheit aufgeben, selbst in Wutanfällen noch kontrolliert handeln, wie die Mutter der Erzählerin in dem Text "Die Entscheidung, ungehalten zu sein"?

 

In all ihren phantastischen, erhellenden, weitreichenden Texten, die von der klassischen Erzählung bis zu experimentellen, frei montierten Passagen reichen, stellt Regina Düring, geboren 1982, die Fragen nach den Möglich-keiten einer Frau, nach dem Raum, den man ihr lässt und dem, den sie sich erkämpfen muss. 

 

Camille Claudel (1864-1943), das Genie, das von dem gefeierten Auguste Rodin ausgesaugt und von der Familie in der Anstalt entsorgt wurde, ist ein tragisches Beispiel einer weiblichen Künstlerbiografie. In einem sprachlich ganz anders klingenden Text berichtet Regina Düring von Alice Kober (1906-1950), die sich nach einem Latein- und Griechischstudium der "Entzifferung der bronzezeitlichen Linearschrift B (widmete). Innerhalb weniger Jahre wurde sie zu einer der führenden Wissenschaftler*innen auf diesem Gebiet."

 

Als Nicht-Archäologin wählte Alice Kober einen völlig neuen Ansatz, um diese im Jahr 1900 auf Kreta ausgegrabenen Tontäfelchen zu entziffern. Kurz vor dem letzten Schritt, kurz vor der Ernte ihrer jahrelangen, intensiven Arbeit, verstarb die Wissenschaftlerin. Diesen letzten Schritt unter-nahm  Michael Ventris.

Auf Wikipedia ist zu lesen: "Ventris entzifferte 1952 zusam-men mit John Chadwick die Linearschrift B. Es wird noch erwähnt, dass er sich dabei auch auf die "Kobertriplets" stützte, also den entscheidenden Punkt auf dem Weg der Entschlüsselung.

 

In dieser Erzählung reflektiert die Autorin auch ihr eigenes Erleben während ihrer Forschungen zu Alice Kober, schreibt ihre Überlegungen als Fragen hinein.

"Im Ernst: Kober habe Ventris vergrault mit ihrer harschen Art, der unerbittlichen Logik. Kober wird als Forscherin verballhornt, als vermeintliche Schreckschraube aber so ernst genommen, dass sich niemand damit aufhält, die Briefe genau zu lesen..."

 

In diese Erzählung, die in viele Gedankensequenzen aufgeteilt ist, fließen unaufzählbar viele Überlegungen zum Frau-Sein ein - das gilt für alle Texte.

 

Besonders herauszuheben sind Wut, Selbstbestimmung, Freiheit, die Be- und Verurteilung von innen und außen.

Regina Dürig greift auf Frauenfiguren aus der Antike zurück und gibt ihnen eine eigene Stimme, sie kann aber auch lustigen, abgedrehten, im Kern sehr modernen, philosophi-schen Dialog zwischen einem Hufeisenkrebs und der Sagen-gestalt Melusine schreiben. Diese unterhalten sich in einem Podcast über gemeinsames aussterben. Es geht aber auch "um die große Liebe und große Geheimisse", so Crab in seiner Ankündigung.

 

Man kann dies als Persiflage auf die momentane Podcast-Manie lesen oder als ironischen Kommentar zu allerlei Ratgebern, man kann sich amüsieren über die Findigkeit,

mit der hier argumentiert wird - der Text, auch dieser Text, bietet mehr als eine Lesart.

Ob sie den eigenen Zeittakt alter Häuser, die merkwürdige Idee einer besonderen Art von Freiheit auf der exclusiven Urlaubsinsel SuperShe-Island, oder den Katalog für Love-dolls beschreibt, jede Passage sprüht vor Phantasie, der Lust am Fabulieren und trotz der Freude am Spiel der Genauigkeit der Sprache bis in die Etymologie hinein.

 

Hier noch ein längeres Zitat aus der Erzählung, die Alice Kober in den Mittelpunkt stellt. Die Passage trägt die Überschrift "Matriarchat":

 

"Materie ist alles, was Raum einnimmt und Masse hat. Materie ist verwandt mit mater, also Mutter. Die Materie, die die Mutter ist, hat vielleicht auf Kreta besonders viel Raum eingenommen in der Bronzezeit. Eine von Arthur Evans´ Vermutungen war, dass die Gesellschaft matriarchal organisiert gewesen sein könnte, da er viele Skulpturen von Frauen ausgegraben hat, die er als Darstellungen der Großen Göttin interpretierte. Inzwischen ist diese These weitest-gehend widerlegt, was mich ab und zu betrübt. Könnte es nicht so gewesen sein: Wenn schon kein Matriarchat, dann eine Gesellschaft, in der die Frauen eine Stellung hatten, die ihnen erlaubte, untereinander ehrlich zu sein. Sich an einem bestimmten Tag in der Woche, an dem sie keine anderen Pflichten hatten, in kleinen Gruppen zu treffen und Worte zu finden für das, was sie beobachtet, wie sie sich gefühlt haben. Wo keine Worte passten, zeichneten sie Symbole. Zum Beispiel das Symbol, das später für einen Irrgarten gehalten wurde. In Wirklichkeit steht es für komplexe Gefühlslagen, wie beispielswiese die: für sich einstehen zu wollen, aber zu wissen, dass man, wenn man etwas sagt, als laut abgestem-pelt und erst recht nicht gehört werden wird. Das Gefühl für alles verantwortlich zu sein und sich daher für alles entschuldigen zu müssen, auch für Wetterlagen und Warte-schlangen. Das Gefühl, dass andere dafür gekämpft haben, das man das tun kann, was man tun möchte, dass aber alles, was man tut, eine Anmaßung bleibt, nicht relevant genug, nicht universell."

 

Regina Dürig schlägt weite Bögen, bringt die einzelnen Steine ihres Text-Mosaiks zum Funkeln, macht klar, dass das große Gebäude aus vielen Bausteinen besteht.

Die so verschiedenen Texte, die unterschiedlichen Ansätzen folgen und in einer je eigenen Tonlage klingen, fügen sich am Ende zu einem komplexen Ganzen zusammen.

 

Die Lektüre bringt einiges zum Brodeln!

 

 

 

 

 

 

 

Regina Dürig: Frauen und Steine - Erzählungen

Literaturverlag Droschl, 2025, 200 Seiten