Fatou Diome - Was es braucht, das Leben zu lieben

Mit bezauberndem Charme und ansteckender Heiterkeit begibt sich Fatou Diome auf die Spuren ihrer Helden. Alle sind vom Schicksal und/oder vom Alltag gebeutelt, allen gemein ist, dass sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie beschreibt die Stärke, die in jedem Menschen steckt, die Kraft, die Freundschaft verleiht und die große Magie der Literatur und die Zauberkraft des Lesens.

 

"Leben heißt seefest werden". Dies ist das Credo der letzten von zehn sehr unterschiedlich langen Erzählungen, die in diesem Buch versammelt sind. Es sind die Worte, die der Großvater der Ich-Erzählerin mit auf den Lebensweg gibt.

Er ist ein Fischer vor der Küste des Senegal, wo Fatou Diome 1968 geboren wurde (heute lebt sie in Straßburg), und er ist ein ganz besonderer Mann: er nimmt sie mit auf sein Boot. Und obwohl sie ein Mädchen ist, übergibt ihr sogar das Steuer und hält sie noch dazu an, ihre Träume und auch Geschichten zu erzählen.

Er ist das Sinnbild einer "Anmut der durch harte Arbeit geschliffenen Seelen, (die) den einfachen Menschen eigen (ist), die den Herrn nur darum bitten durchzuhalten."

Als sie älter wird und anfängt, intensiv zu lesen, vergrößert sich der Abstand zum Großvater. Doch dann fällt ihr Hemingways "Der alte Mann und das Meer" in die Hände,

ein Buch, das mehr ist "als ein Buch, es ist ein Wiedersehen!" mit ihrem Großvater - die Nähe ist wieder unmittelbar da.

"Von Hemingway erfuhr ich alles über den Mut, den Willen, die Entsagung, die Würde, das Leben meines Großvaters, des Fischers von Niodior."

 

Das Lesen öffnet ihr die Augen und hilft ihr, Kurs zu halten.

Und es lehrt sie das Schreiben: den Blick zu schärfen und ihre Figuren konturiert darzustellen, sie einzubetten in ihre Lebenswelt, für die auch die gesellschaftlichen Zustände ausschlaggebend sind.

Dabei entwickelt sie einen so eigenen Stil, sie spielt so gekonnt damit, ernste Inhalte ironisch-leicht zu formulieren, dass sich von Anfang an ein `Diome-Sound´ entwickelt. Beispielsweise "Doch Schluss jetzt mit den Spekulationen. Samira warf die Gräten in ihrem Kopf der Katze vor, die unter dem Fenster maunzte."

Oder: "Wenn nichts dazwischenkam, das den Takt der Taufen bremste, wären sie bald eine Fußballelf plus Reservebank."

 

Der Protagonist der ersten beiden Erzählungen, Andy, leidet an den Folgen einer Kinderlähmung. Doch er ist charmant und witzig, er geht auf die Menschen zu, hat Wünsche und Träume.  Aber, "was kümmern den Himmel die Wünsche der Sterblichen? Andy wusste das nur zu gut, also parodierte er die seinen. ... Seine unbeschwerte Ironie bedeutete: Das Leben macht, was ihm gefällt, und ich nehme mir, was ich kann! ... Wie dunkel mochten die Tiefen sein, dass er so angestrengt um Leichtigkeit rang?"

Mit seiner Nachbarin, die die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt, entwickeln sich absurd-komische Dialoge, die einem zeig-dich-versteck-dich gleichen und immer tiefer in die Seelen der beiden führen. Er bezeichnet sich schließlich als ihr "Schutzengel", weil er sie ständig beobachtet, eine Tatsache, die ihr zunächst gar nicht gefällt. Doch sie vertraut ihm und resümiert: "Sich beobachtet zu wissen ist unange-nehm, klar, aber es gibt Schlimmeres: unsichtbar zu sein."

 

Hier fasst sie das Thema Einsamkeit ins Auge und weist darauf hin, die Dinge einmal von der anderen Seite aus zu betrachten. In der Geschichte "Immer dieselben sieben Wörter" erzählt sie von Schüchternheit und was es braucht, sie zu überwinden. Eine weitere Erzählung beschreibt ganz dezidiert die Folgen der Globalisierung und die des Klima-wandels für die Fischer an Afrikas Küsten. Die Illusionen der Liebe bestimmen das Leben einer Frau namens Touty, ein

Ex-Boxer ist der Protagonist zweier Erzählungen, die miteinander verknüpft sind. Seine Karriere hat er hinter sich, er ist nun ein Vertreter mit Gewaltproblem.

 

"Unsere Gesellschaft recycelt Papier und Plastik, und mit den Arbeitskräften hält sie es ähnlich, vor allem mit den ärmsten. Auf dem Standstreifen des Berufslebens werden diejenigen verbraucht, die keine Verbraucher mehr sind. Mit leeren Taschen warten, das konnte der Ex-Boxer nicht. Stehend, die Faust erhoben, im Ring und überall, so lebte V.R."

 

Das ist keine beißende Gesellschaftskritik, aber eine deutliche. Noch deutlicher wird sie, als sie vom Schicksal Samiras und ihrer kleinen Tochter Leila erzählt, die aus Afrika geflohen und nun im Roya-Tal in den Seealpen gestrandet sind. Dort kümmern sich schon immer die Hirten und alle anderen um Flüchtlinge, das Miteinander ist tief in dieser Kultur verwurzelt, ohne es wäre kein Überleben in dieser Landschaft möglich. 

Nun steht der Hirte, der Samira beherbergt, vor Gericht.

Weil er sie beherbergt.

 

"Diese Söhne Mariannes warten mit dem richtigen Denken nicht, bis die Kameras kommen, und geben sich nicht damit zufrieden, etwas von Aufklärung zu faseln, um Prinzessin Europas Eitelkeit zu schmeicheln. Nein, unter dem Blick ihrer Kühe, die nicht an der Sorbonne studieren, beleben sie die Aufklärung neu und bringen sie all ihren Brüdern. ...

An ihrem Fenster mit Blick auf das Roya-Tal rupfte sich Samira das Unkraut aus dem Kopf. Ob die menschliche Seilschaft aufgab oder doch noch versuchen würde, ihre Werte zum Gipfel zu tragen?"

 

Fatou Diome knüpft ein Netz, das ihre Figuren miteinander verbindet, und die Figuren mit ihren Leser:innen. 

Sie findet einen gemeinsamen menschlichen Nenner  zwischen verschiedenen Kulturen, Geschlechtern oder Lebensaltern. Ihr Stil nimmt ihren Aussagen die Schwere, nicht aber ihr Gewicht und keine der Erzählungen endet in der Hoffnungslosigkeit. "Leben heißt seefest werden."

Das dauert ein Leben lang.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fatou Diome: Was es braucht, das Leben zu lieben

Aus dem Französischen von Brigitte Große und Ina Pfitzner

Diogenes Verlag, 2023, 240 Seiten

(Originalausgabe 2021)