Elena Ferrante - Meine geniale Freundin

Im Prolog zu diesem Roman berichtet die Ich-Erzählerin Elena von einem Anruf Rinos, des Sohnes ihrer Freundin Raffaella, von Elena Lila genannt.

Rino erzählt, seine Mutter sei verschwunden, seit zwei Wochen.

Sie ist nicht nur weg, sie scheint ihr ganzes Leben ausgelöscht zu haben, sogar aus alten Fotos hat sie sich heraus-geschnitten. Mit ihren sechsundsechzig Jahren will sie wie immer zu weit gehen, denkt Elena und setzt sich hin, um die Geschichte ihrer Freundschaft nieder zu schreiben - mit dem etwas grimmigen Gedanken:

"Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält."

 

Die beiden Mädchen kommen aus dem Stadtviertel Rione in Neapel. Sie besuchen zusammen die Grundschule und sie sind sich keineswegs auf Anhieb sympathisch. Doch als sie sich einmal angefreundet haben, sind sie unzertrennlich.

Elena ist ein freundliches Kind, das alle Leute mögen - nur mit ihrer Mutter versteht sie sich nicht gut.

Lila hingegen ist "ausgesprochen frech". Sie ist aber auch außerordentlich intelligent, lesen und schreiben lernt sie lange vor ihren Mitschülern, die Lehrerin lobt sie überschwänglich als "die Beste".

Elena arbeitet hart daran, auf Platz 2 hinter Lila zu kommen, nicht um die Zweitbeste zu sein, sondern um niemanden zwischen sich und Lila zu haben, sie schließt sich ihr bedingungslos an, bezieht ihr ganzes Handeln und Denken auf die Freundin.

 

Dies wird sich im Grunde in den nächsten zehn Jahren nicht ändern, so verschieden die Lebenswege der beiden auch sein mögen.

Elena darf auf Betreiben ihrer Lehrerin die Mittelschule und später das Gymnasium besuchen, Lila bleibt diese Möglichkeit verwehrt: ihre Eltern sind nicht bereit, sie finanziell zu unterstützen, Lila muss nach fünf Jahren Grundschule in der Schusterwerkstatt ihres Vaters mitarbeiten.

 

Doch sie gibt sich alle Mühe, am Ball zu bleiben, lernt alleine Latein und ist darin erfolgreicher als Elena. Sie gibt der Freundin sogar entscheidende Tipps, dank Lila öffnet sich die Sprache für Elena und sie erhält die Bestnote. Auf dem Gymnasium wird es mit Griechisch ähnlich gehen.

 

Elenas Leben besteht hauptsächlich aus Schule.

Lilas aus arbeiten - und träumen. Sie hat ihrem Bruder Rino den Gedanken in den Kopf gesetzt, Schuhe nicht nur zu reparieren, sondern herzustellen. Und mit einer Manufaktur reich, richtig reich zu werden, reicher als die Familie Solara.

Sie selbst arbeitet verbissen an einem selbst entworfenen Schuh mit, in der Hoffnung, den Vater von ihren Ideen überzeugen zu können.

 

Die beiden Mädchen leben in einem dichten Geflecht aus Nachbarn, Schulkameraden, Verwandten, Leuten, die man liebt oder hasst, solchen, denen man vertraut und solchen, denen man aus dem Weg geht.

Auffallend ist, wie allgegenwärtig die Gewalt ist: Konflikte werden sehr häufig per Faustschlag erledigt, Prügeleien sind an der Tagesordnung, die Jungen lernen es von den Alten, und kaum einer fällt aus dieser Art zu leben heraus.

 

In diesem Italien am Anfang der 1950er Jahre fängt die Mafia gerade erst an, Fuß zu fassen. Auch in Neapel hat sich die Krake niedergelassen, es gibt Familien, die sehr schnell zu Geld gekommen sind, während andere noch kaum das Nötigste zu Überleben haben.

 

In eine gut situierte Familie wird Lila mit gerade sechzehn Jahren einheiraten. Damit hat sie ihrer ganzen Familie Arbeit gesichert, sie hat die Schuhproduktion angestoßen mit der ihr Bruder reich werden will, sie zieht nach der Hochzeit in eine neue Eigentumswohnung mit Bad, sie kleidet sich nach Art einer Filmschauspielerin und obendrein ist sie die Schönste des ganzen Viertels geworden, der die Männerwelt zu Füßen liegt.

 

Doch wo ist ihr wacher Geist geblieben? Sie hat irgendwann aufgehört mit Elena zu lernen, sie hat für sich die Schuhwerkstatt abgeschrieben, hilft stattdessen der Mutter im Haushalt und wird eines Tages an der Kasse des Lebensmittelladens ihres Mannes sitzen.

 

Elena beobachtet dies alles mit einer Mischung aus Faszination und Angst. Fasziniert, wie weit im Leben es Lila schon gebracht hat, ängstlich, weil die Freundin immer weiter von ihr weg rückt und sich in Elena das Gefühl des Fremdseins ausbreitet. Elena, die Schulbeste, denkt, all ihre Bildung sei nichts wert, weil sie sich mit niemandem mehr austauschen kann - und weil sie keinen Verlobten hat. 

Sie merkt im Lauf der Zeit, dass sie nicht für sich selbst, nicht einmal für die Lehrer oder das Zeugnis so viel lernt, sie tut es für Lila, will ihre Anerkennung.

Doch es kommt so weit, dass Lila das intellektuelle Gespräch abblockt und statt dessen die Geschenke Stefanos vorzeigt.

 

In ihrer Verweigerung erscheint Lila unabhängig.

Elena braucht Lila, sie ist ihr Bezugspunkt. Egal, was Elena

tut, wo auch immer sie Lila einmal voraus sein will, immer "überlagerte Lilas Welt .. sofort die meine."

Und Elena verlegt sich aufs Bewundern.

 

Doch so einfach ist das alles nicht. Lila ringt in hohem Maß um ihre Unabhängigkeit. Sie macht was sie will, Elena fragt sich ob das "ihre Art ist, aus dem Rione auszubrechen, ohne ihn zu verlassen?"

Sie scheint viel von dem, was sie tut oder nicht tut, ganz kalt zu berechnen und nach Nutzen oder Schaden abzuwägen.

 

In ganz entscheidenden Momenten ihres Lebens jedoch wendet sie sich an die Freundin.

Eine ganz berührende und intime Begegnung der beiden Mädchen (aus heutiger Sicht mag man sie nicht Frauen nennen) findet am Morgen der Hochzeit statt.

Lila sagt: "Was auch geschieht, du musst weiterlernen. ...

Nicht für dich: Du bist meine geniale Freundin, du musst

die Beste von allen werden, von den Jungen und von den Mädchen."

Daraufhin hilft Elena Lila beim Baden, zum ersten Mal sieht sie die Freundin nackt und schutzlos. Elena ist verwirrt, geradezu erschüttert. Sie kann sich nur dadurch beruhigen, dass sie von der Ich-Form, in der sie die ganze Geschichte erzählt, in die unpersönliche Man-Form fällt und dadurch eine Distanz herstellt:

 

"Und man tut, als ob nichts wäre, während doch hier, in diesem kärglichen, etwas düsteren Zimmer mit den armseligen Möbeln ringsherum, auf dem nassen, unebenen Fußboden, alles im Gange und gegenwärtig ist, einem Herzklopfen verursacht und das Blut erhitzt."

Lila, nachdem sie angekleidet ist und an den Füßen die selbst entworfenen Schuhe trägt sagt, sie seien hässlich.

"Aber ja, sieh doch nur: Die Träume des Kopfes sind unter die Füße geraten. ... Was passiert mir hier gerade, Lenù?"

 

Lila scheint einen Teil ihres eigenen Lebens an Elena abzugeben, sie aufzufordern, das zu tun, was sie selbst nicht tun konnte. Plötzlich kehrt sich das Verhältnis der beiden um, bzw zeigt seine Doppelbödigkeit aus Anhänglichkeit und Rivalität, aus Vorangehen und Nachfolgen, aus dem Drang auszubrechen aus der Gemeinschaft oder von ihr aufgenommen zu werden.

 

Ferrante - es wird gerätselt, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt - ist ein grandioser Roman gelungen. Dieser erste von vier Bänden führt die Personen ein, malt ein sehr lebendiges Bild von Neapel und der Zeit der fünfziger Jahre, bildet ganz klar die Lebensumstände jener Jahre ab und - das ist ungeheuer interessant - legt so viele Spuren und Verbindungen zwischen den einzelnen Protagonisten, nicht nur der Hauptpersonen, dass ein ganzes Universum entsteht. Wie Sterne am Himmel mit gedachten Linien zu Bildern zusammenfinden, so ergeben sich Beziehungen jeglicher Art zwischen den Menschen, die in dieser Geschichte agieren. Inhaltlich nimmt die Autorin immer wieder Bezug auf Szenen, die weit zurück liegen, um dort, wo sie wieder wichtig werden, ins Gedächtnis gerufen zu werden, dann, wenn sie eine neue und weitere Ebene erreichen.

 

Da der Roman aus dem Rückblick geschrieben ist - gleich im Prolog weist Elena, die Schriftstellerin geworden ist, darauf hin, ist klar, dass es sich hier um die Erinnerungen einer erwachsenen Frau handelt, die auf ihre Kindheit und Jugend zurückblickt. Das schließt mit ein, dass Begebenheiten stets reflektiert erzählt werden und nicht den Anstrich der Unmittelbarkeit erhalten. Doch das nimmt ihnen nichts von ihrer Lebendigkeit.

 

"Das Brautpaar traf ein, unter begeistertem Applaus.

Die Kapelle spielte unverzüglich den Hochzeitsmarsch.

Mit meiner Mutter, mit ihrem Körper, verband ich untrennbar das Gefühl der Fremdheit, das immer stärker

in mir wurde. Da war Lila, vom Rione gefeiert, sie schien glücklich zu sein. Sie lächelte, elegant, höflich, Hand in Hand mit ihrem Ehemann. Sie war wunderschön. Als kleines Mädchen hatte ich ihr, ihrem Gang, nachgeeifert, um

meiner Mutter zu entfliehen. Ich hatte mich geirrt. Lila war dortgeblieben, deutlich an diese Welt gefesselt, aus der sie

das Beste herausgeholt zu haben glaubte. Und das Beste war dieser junge Mann, diese Heirat, dieses Fest, das Spiel mit den Schuhen für Rino und ihren Vater. Nichts, was mit meinem Weg eines fleißigen Schulmädchens zu tun

gehabt hätte. Ich fühlte mich mutterseelenallein."

 

Diese beiden Mädchen faszinieren auch deshalb so, weil in beiden alle Möglichkeiten des Gelingens und des Scheiterns angelegt sind. Der Leser weiß, dass Elena es aus dem Rione heraus geschafft hat, ohne Lila. Sie ist ohne Lila gegangen, aber hätte sie es ohne Lila geschafft? Lila bleibt, aber sie fügt sich nicht. Das wird spätestens in der letzten Szene des Buches deutlich: ihr Ex-Verehrer, ein Angeber, einer, der sie heftig bedrängte, aus einer Familie stammend, bei der alle Schulden haben, trägt bei der Hochzeitsfeier die Schuhe, die ihr Ehemann Stefano einst für sich selbst bei Lilas Vater gekauft hatte. Das birgt Sprengkraft.

 

"Ich sah, wie die Farbe aus Lilas Gesicht wich,wie sie kreideweiß wurde, so wie sie als kleines Mädchen gewesen war, weißer noch als ihr Brautkleid, und wie ihre Augen sich plötzlich zu zwei Schlitzen verengten. Vor ihr stand eine Weinflasche, und ich hatte Angst, ihr Blick könnte sie in tausend Stücke zerspringen lassen..."

 

Lila hat sich noch längst nicht ergeben und man darf auf die weiteren drei Bände dieses Romanes gespannt sein.

 

 

 

 

 

 

 

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Übersetzt von Karin Krieger

Suhrkamp Verlag, 2016, 422 Seiten

(Originalausgabe 2011)