Gabrielle Alioth - Die Überlebenden

"Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnertem, Erdachtem und Erträumten zusammengefügt, so wie es mir heute richtig erscheint.

Aber schon bald kann sie sich ganz anders darstellen, denn wir formen die Vergangenheit immer wieder neu, auf der Suche nach einer Erklärung für unsere Gegenwart und in der Hoffnung                                                 auf eine Zukunft."

 

Gabrielle Alioths Geschichte einer Schweizer Familie im

20. Jahrhundert fußt auf  der Geschichte ihrer eigenen Familie. Einige Grundkonstellationen behält die Autorin bei, die Romanfiguren sind jedoch "von der Realität befreit".

 

Aus dem oben beschriebenen Zusammenwirken von erzählen, erinnern, erdichten und erträumen ist ein Roman entstanden, in dem aus vielen Fäden ein dichtes Gewebe entsteht. Ein Gesamtbild, in dem sich die verschiedenen Zeitebenen ineinanderfügen, ein Bild, das immer klarer wird, das deutlich macht, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt.

 

Gabrielle Alioth folgt nicht der Chronologie, ihre poetische Logik folgt der von Erinnerungen - sie stellen sich ein.

Dieses Vorgehen bewirkt, dass man sich bei der Lektüre immer wieder orientieren muss, in welcher Zeit man sich gerade befindet, ob eine Erinnerung in die Gegenwart prescht, oder ein momentanes Ereignis Erinnerungen auslöst. Man muss sich einlassen auf diese Art des Erzählens, wird nach einer Einlesephase aber belohnt mit einem ganz besonderen Roman, der Sogwirkung entfaltet.

 

Drei Figuren stehen im Mittelpunkt: Mina, Max und Vera.

Mina, 1906-1993, die kurz vor ihrem Tod noch einmal die Briefe liest, die sie während und nach dem Krieg an ihrem Mann Oskar ins Ausland geschrieben hat. Und diese Briefe dann verbrennt. 

Max, ein Neffe Minas, geboren 1938, der mit sieben Jahren zusammen mit seiner Mutter die Schweiz verlässt, zum Vater in die USA zieht, zwei Jahre später wieder zurückgeschickt wird "wie ein Paket", als die Eltern sich scheiden lassen.

Er kommt bei seiner Tante Mina unter, vorerst. Später wird er in ein Internat geschickt, danach übernehmen ihn die Großeltern. Bis er 1952 nach Amerika flieht.

Vera, Nichte Minas, Jahrgang 1955, eine Cousine von Max also, ist Schmetterlingszüchterin geworden. Mit Mitte zwanzig heiratete sie in Norddeutschland, lebt mit ihrem Mann Jens am Stadtrand Hamburgs in der "Krähenvilla", einem Erbstück von Jens. Hier, in der neuen Heimat, stellt

sie sich die Frage: "War es ihr tatsächlich gelungen, ihrer Herkunft zu entkommen, Nachteile in Vorteile zu verwandeln?"  

 

Auch darum geht es in diesem Roman: ist es möglich, sich aus der (Familien)Vergangenheit zu befreien, die Prägungen abzulegen?

 

Die drei Lebensgeschichten führen zum Vater bzw. Großvater zurück. Zu August Stutz, einem Bäckermeister in Feuerthalen bei Schaffhausen. Ein rühriger und wichtiger Mann, ein Bürger, wie er sein soll. Nach außen hin.

Doch nach und nach erfährt Vera, dass er nicht davor zurück-schreckte, eine seiner Töchter um ihre Ersparnisse zu bringen und sich im Keller an den "Ladenmädchen" verging.

Dieser Mann übergibt seine Tochter Mina an ihren Ehemann Oskar, von dem Vera "schon als Kind wusste, dass Onkel Oskar sie (Mina) quälte."

 

Er quält nicht nur Mina. Doch diese schweigt.

 

Mina versucht durch Verschweigen und Verdrängen ihrer Last zu entkommen, Max durch Flucht und das Ausleben von Macht als Hubschrauberpilot in Vietnam, Vera durch ihr Abtauchen in die Welt der Schmetterlinge.

 

"Vera denkt an Grossvater in seinem Korbstuhl und wie er sie angeschaut hat. Mit seiner Willkür, seiner Geringschätzung, seiner Gewalt hat er das Leben seiner Kinder und seiner Enkel geprägt, und vielleicht hat er auch gesehen, was aus ihr würde."

 

Eine Begegnung Anfang der 2000er von Vera und Max

bringt zumindest in Veras Leben Klarheit. Sie kann sich aus Beziehungen lösen, die sie nicht befördern, sie gewinnt an Eigenständigkeit. Die Verwandlung der Raupen, die Fähig-keit, zu etwas völlig anderem zu werden, ist eine Eigenschaft, die Gabrielle Alioth ihrer Romanfigur Vera zuschreibt.

In der jüngsten Enkeltochter des Bäckermeisters scheint sich die Verbindung von Schweigen und Gewalt gelöst zu haben.

 

 

Ein dichter und bewegender Roman, raffiniert komponiert, mit präziser Figurenzeichnung - große Empfehlung!

 

 

 

 

 

 

 

 

Gabrielle Alioth: Die Überlebenden

Lenos Verlag, 2021, 269 Seiten