Dorothy Baker -

Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

Im Prolog gibt die Autorin einen kurzen Überblick über die Geschichte, von der sie sagt: "Die grundlegenden Fakten sind schnell erzählt." Die Fakten sind: Rick Martin, ein Junge, der sich selbst überlassen groß wird, avanciert zum gefeierten Trompeter. Er spielt den Jazz so gut wie ein Schwarzer, kennt nichts außer der Musik und scheitert im Leben. Er wird keine dreißig Jahre alt, solche  Menschen verbrennen schnell.

 

Etwas ausführlicher schreibt Dorothy Baker, die mit diesem 1938 erschienenen Roman das Genre des "Jazz-Romans" erschuf:

"Es ist eine Geschichte über mehreres - über die Kluft zwischen den musikalischen Fähigkeiten dieses Mannes

und seiner Unfähigkeit, diese in sein Leben zu integrieren;

über den Unterschied zwischen den Anforderungen des künstlerischen Ausdrucks und den Anforderungen des täglichen Lebens, und schließlich über den Unterschied zwischen Gut und Schlecht in einer originär amerikanischen Kunstform, dem Jazz."

 

 

Ricks Mutter stirbt kurz nach seiner Geburt, wenig später macht sich sein Vater davon. Das Kind bleibt bei seiner Tante und dem Onkel, die selbst noch nicht erwachsen sind.

Als er acht Jahre alt ist, ziehen die drei nach Los Angeles. Rick bleibt sich selbst überlassen. Er geht zur Schule oder auch nicht, er liest unglaublich viel, er ist es gewohnt, alleine zu sein. Durch Zufall entdeckt er das Klavierspiel für sich. 

Er übt heimlich auf einem Klavier der All Saints Mission und schafft sich dort eine Grundlage. Als er entdeckt wird, und die Saints seine Seele retten wollen, verschwindet er schnell. 

 

In einem Pfandleihhaus sieht er eine Trompete. Sie fasziniert ihn, denn er kann sich nicht vorstellen, wie man diesem Instrument Töne entlocken kann. Er beschließt, Geld zu verdienen, um sich die Trompete kaufen zu können.

Mittlerweile ist er vierzehn und beginnt in einer Bowling-bahn zu arbeiten. Dies ist insofern ein Glücksfall, denn

dort lernt er den zwei Jahre älteren Smoke kennen.

Dieser schwarze Junge arbeitet ebenfalls dort, im wirklichen Leben ist er jedoch Schlagzeuger. Er wird Ricks erster und bester Freund und er führt ihn in die Welt der schwarzen Band-Musik ein.

 

"Dort lehrte der Schwarze den Weißen dann, was Rhythmus ist. Nicht durch lange Erklärungen, sondern durch praktische Anschauung. ... Er gab Beispiele seiner Arbeit, bis er Rick so weit hatte, dass dieser angesichts eines neuen, fast undurch-schaubar komplizierten Patterns spontan auflachte, und nun gab es kein Halten mehr - Rick war infiziert, für immer den Synkopen verfallen."

 

Von Smoke erfährt Rick, was Familie sein kann, was es bedeutet, "wirklich" mit jemandem zu reden und er vergisst, dass es das Wort "Nigger" gibt. 

Da die Geschichte in den 1920er Jahren spielt, ist es nicht selbstverständlich, dass so etwas passiert - dass überhaupt eine  Freundschaft zwischen einem Schwarzen und einem Weißen zustande kommt.

 

Smoke macht Rick mit Jeff Williams und dessen Band

Cotton Club bekannt. Dort lernt Rick alles, was er von einem anderen Menschen über Musik lernen kann.

Vom Klavier wechselt er zur Trompete. Mit sechzehn ist er so gut, dass er in jeder Band spielen kann, mit Anfang zwanzig ist er so bekannt, dass er von der Westküste nach New York

wechselt, dem Mekka des Jazz.

 

"Mit vierundzwanzig war er der führende Mann unter den Trompetern dieses Landes und damit der Welt."

 

Er spielt in dem beliebtesten Orchester, er ist der Solist, den alle hören möchten, er verdient gutes Geld. Doch die Arbeit im Orchester ist nicht ganz das, was seine Leidenschaft stillt.

"Wenn um ein Uhr das Programm endete, war er gerade

erst richtig in Fahrt gekommen, also ging er woanders hin.

Sein eigentliches Leben begann nach Feierabend.

Nachdem er seine Arbeit gut gemacht hatte, folgte seine wirklich gute Arbeit."

In der Nacht tun sich die Musiker zusammen, die jenseits des Publikumsgeschmacks ihre eigene Musik machen. 

Für diese Männer, ganz besonders für Rick, gibt es nichts außer der Musik,  und - in immer stärkerem Maß - dem Gin.

 

Eines Tages verlässt Rick das Orchester, in dem er lange spielte und zu diesem Zeitpunkt hört er auch auf, seine Liebe zum Alkohol zu verstecken. Seine unglückliche Ehe mit Amy tut ihr übriges dazu. Spielen und Trinken, das ist sein Leben.

 

Nach einer durchspielten und durchzechten Nacht nimmt er eine Platte auf. Und danach gleich noch eine mit Josephine, Smokes Schwester. Hier passiert das Unmögliche: Rick verpatzt das Ende, ein Ton geht daneben. Er hatte seiner Trompete einen Ton entlocken wollen, den sie ihm nicht geben konnte. "Der Ton, den er da spielen wollte, was er da machen wollte - das geht einfach nicht. Nicht auf einer Trompete", sagt Jeff, der auch mitgespielt hat.

Jeff bleibt der einzige, der "begriff, warum er die Platten-aufnahme verpatzt hatte." Andere sprechen davon, dass der Stern Rick Martins nun im Sinken begriffen sei.

 

Rick ist gesundheitlich am Ende. Er stirbt nach einer Entziehungskur an einer Lungenentzündung.

 

 

"Vielleicht hätte er sich von vornherein nicht mit Negern einlassen sollen. Es bescherte ihm eine merkwürdige Sicht auf die Dinge, und die wurde er nicht mehr los. Ein Faible für undisziplinierten Ausdruck, eine direkte, leidenschaftliche Herangehensweise, eine lautstarke Ungezwungenheit,

die ihm in seinem späteren Umgang mit Menschen seiner eigenen Rasse letztlich nicht von Nutzen war, mit jenen,

die von der Zivilisation zurechtgestutzt worden sind, sich beherrschen können und das spielen, was auf dem Blatt steht. Aber was er hätte tun oder nicht tun sollen, ist jetzt nicht mehr von Bedeutung."

 

So fängt das erste Buch an und diesen Ton behält Baker bei. Sie ist eine Meisterin der Ironie und des Scharfblicks.

In jedem Abschnitt erzählt sie so viel mehr als explizit dasteht, sie nimmt kein Blatt vor den Mund, benennt die Dinge direkt, aber ohne jemals voyeuristisch zu sein.

Sie erkennt keine Hierarchien an, lediglich Unterschiede.

Die schwarzen Musiker sind bei Baker keine klischeehaften Neger - sie verwendet diese Bezeichnung ganz selbstver-ständlich und es ist nicht abwertend gemeint, dazu zeichnet sie diese Menschen zu komplex und mit zu viel Sympathie.

Das ist neu in der weißen Literatur Amerikas in den dreißiger Jahren.

 

Sie hat ihren Roman sehr raffiniert komponiert.

Das Thema der Erzählung ist die Lebensgeschichte Rick Martins. Von Kindheit über Jugend, Lehrzeit und Aufstieg zu Krise und frühem Tod hält sie sich über die Einteilung in vier Büchern hinweg an die chronologische Ordnung des Geschehens. Um diese Grundordnung herum erzählt sie die innere Geschichte der Leidenschaft eines Menschen mit einem Talent, das stärker ist als jeder Wille, jede Vernunft.

Die Themen Disziplin, Freundschaft, Rassentrennung, Ökonomie, Zufälle, Liebe, Abhängigkeiten, Besessenheit, Anlagen und deren Entwicklung, Musiktheorie - jeder Leser mag weitere Themen entdecken - werden in den Fluss der Geschichte eingebaut. Um im Bild der Musik zu bleiben:

um das Hauptthema ranken sich die verschiedenen Motive, es fehlen nicht die Synkopen und Improvisationen, sie alle zusammen bilden die Melodie, den Rhythmus, den Sound, die den Roman schwingen lassen.

 

Der Erzähler ist ein Kobold, der durch den Roman saust.

In der Regel erzählt er die Geschichte ganz klassisch als ein Betrachter von außen, der alles überblickt und der wiedergibt, was er sieht. Doch dann und wann spricht er den Leser direkt an, als ein "Ich", das den Leser anschaut.

"Unser Mann ist, das muss ich leider sagen, ein Künstler und schleppt den entsprechenden problematischen Ballast mit sich herum, eine Künstlerseele."

Oder er kommentiert das von ihm Erzählte: "Es war sehr kompliziert, wie er zu alldem stand. Zunächst war da sein verzehrendes Interesse an der Musik, und dann seine tiefen Gefühle für Smoke Jordan, den einzigen Menschen auf der Welt, den er kannte und liebte. Oder vielleicht kam auch erst Smoke und dann die Musik. Aber egal in welcher Reihen-folge, beides gehörte zusammen. ...Wenn man sich ein bisschen umhörte, fände man sicher jemanden, der das einen Teufelskreis nennen würde."

 

Dorothy Baker legte Wert darauf, dass ihr Roman um Rick nicht von der Lebensgeschichte des Ausnahmetrompeters Bix Beiderbecke (1903-1931)inspiriert wurde, sondern von dessen Musik.

Und Musik ist auch ihr Roman, vielstimmig, ungewöhnlich und betörend.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dorothy Baker:

Ich mag mich irren, aber ich finde dich fabelhaft

Übersetzt von Kathrin Razum

dtv Hardcover, 2017, 270 Seiten

(Originalausgabe 1938)