James Baldwin - Von dieser Welt

Gott-Vater, Familie, Macht, Angst, Not,

religiöse Tradition, Auflehnung, Hass, sexuelle Orientierung, schwarze Historie Amerikas, New York in den 1930ern - dies alles erzählt anhand der Geschichte des vierzehnjährigen John Grimes. Er ist der Mittelpunkt dieses autobiographisch gefärbten Romans, in ihm kulminiert eine lange Geschichte der Schwarzen in den USA.

 

Aus drei Teilen besteht dieser Roman, der sich in Kreisen fortbewegt, um auf dem Gipfel einer tief erlittenen religiösen Ekstase zu enden.

 

Teil 1: Der siebente Tag

Teil 2: Die Gebete der Gläubigen - Florence, Gabriel, Elizabeth

Teil 3: Die Tenne

 

 

März 1935: John wird vierzehn. Ein jeder geht davon aus, dass er Prediger wird, wie sein Vater. Aber er träumt von einem anderen Leben. Er möchte raus aus der materiellen und seelischen Not. Er sehnt sich nach sinnlichen Genüssen, nach Schönheit und Wissen. 

Er sehnt sich nach Liebe, die nicht durch Selbstverleugnung erworben wird. Er spürt in sich eine widerständige Kraft.

 

Diese ist "Teil der Verstocktheit, derentwegen ihn sein Vater prügelte und an der er festhielt, um seinem Vater zu trotzen." Der Vater prügelt ihn unerbittlich, "doch ganz ging sein Vater nie als Sieger hervor, weil John etwas hegte, an das sein Vater nicht herankam. Seinen Hass und seine Intelligenz hegte er, und beide bedingten einander. Er lebte auf den Tag hin,

an dem sein Vater starb und er ihn an seinem Sterbebett verfluchen konnte."

 

Dieser Hass auf den Vater ist auch der Grund, aus dem sich "Johns Herz ... gegen den Herrn verstockt" hatte.

 

Der Vater ist zugleich der Gott-Vater, der Kampf gegen den einen, das Ringen mit dem anderen ist untrennbar ineinander verwoben. Er ist fast eins. Die Gewalt des Vaters über den Leib des Sohnes, der Kampf um die Herrschaft über das Leben und die Seele Johns führt der Vater mit religiöser Inbrunst. Er führt ihn so heftig, dass er verflucht wird.

 

Nicht von John am Sterbebett, sondern von Johns jüngerem Bruder Roy, Augenstern des Vaters Gabriel.

Roy ist ein "Rabauke", ein Herumtreiber, einer, der den Kopf nicht beugt.

Mit den Worten "Roy hat ein Messer abgekriegt" wird John am Nachmittag seines Geburtstages zu Hause empfangen. Roy liegt verletzt im Zimmer, die ganze Familie ist außer sich.

 

In einer Szene, die so dicht ist wie ein schwarzes Loch, beschreibt Baldwin, was in Mutter, Vater, Tante Florence, John selbst und Roy vorgeht.

In diesen Personen als Individuen, als Schwarze, als streng Gläubige.

Es kommt zu einem weiteren Gewaltausbruch, nachdem Roy den Vater verflucht hat. John sieht in den Augen Gabriels, wie sehr der Vater ihn hasst, "weil nicht er dort auf dem Sofa lag, sondern Roy. John konnte seinem Vater kaum in die Augen sehen, und doch tat er es, kurz, wortlos, mit einem seltsamen Gefühl des Triumphs und der Hoffnung im Herzen, Roy möge, um seinen Vater zu Fall zu bringen, sterben."

 

In den "Gebeten der Gläubigen" werden drei Lebens-geschichten erzählt. Die von Florence, der Schwester Gabriels, die von Gabriel und die von Elizabeth, Johns Mutter. 

Diese Geschichten reichen zurück bis in die Zeit der Sklaverei. Zurück in den Süden, den alle drei verließen auf der Suche nach einem besseren Leben im Norden.

 

Florence hatte sich schon vor Jahrzehnten von Gott abgewandt. Gabriel, ein jugendlicher Heißsporn, der trank und Frauen hatte, erlebt eine religiöse Erweckung, da ist er erst Anfang zwanzig. Er heiratet, predigt und setzt alles daran, ohne Sünde zu leben. In der ersten Ehe bleibt ihm ein Sohn verwehrt, seine Frau Deborah stirbt, ohne ein Kind bekommen zu haben. Er heiratet Elizabeth, die einen unehelichen Sohn mit in die Ehe bringt - ihn an Kindes statt anzunehmen, erscheint ihm wie die Buße einer selbst begangenen Sünde.

 

Die Lebensgeschichten sind bestimmt von der Arbeit für Weiße, von Gewalt und Unterdrückung und der unstillbaren Sehnsucht nach Verbesserungen - bei dem gleichzeitigen Wissen, dass nichts jemals besser werden wird. 

In diesen individuellen Geschichten zeichnen sich Muster ab. Die Männer erleben Rassismus aufgrund ihrer Hautfarbe, die Frauen leiden unter doppelter Last: als Schwarze und als Frauen, sie befinden sich sehr weit unten auf der Leiter. 

Alle richten ihre Hoffnungen auf das Jenseits, aber auch das ist ein harter Kampf. Ein gottgefälliges Leben ist ein schwieriges. Sünde lauert überall.

 

Baldwin gelingt es, mit diesen einzelnen Schicksalen universelles Leben und Erleben zu erzählen. 

Die Lebensgeschichten tragen nicht umsonst die Überschrift "Gebet": sie sind in einer Sprache geschrieben, die den Rhythmus und Sog von Musik hat. Baldwin findet in diesem Roman seine eigene Sprache, seinen Sound.

Seine Erzählungen sind durchsetzt von Zitaten aus der Bibel oder aus Kirchenliedern, sie sind durchdrungen von der Sehnsucht und Suche nach Gott und der Sehnsucht und Suche nach einem eigenen, eigenständigen Leben.

 

Der Glaube, wie Gabriel ihn lebt, ist eng verknüpft mit Macht. "Denn seine Seele sehnte sich mit Furcht und Zittern nach all den Herrlichkeiten, die seine Mutter für ihn erflehte. Ja, er wollte Macht  ... er wollte herrschen, mit jener Geltung sprechen, die nur von Gott kommen konnte."

 

Diese Anmaßung ist es, die John abgrundtief hassen wird.

Florence hat einen Brief in der Hand, mit dem sie ihren Bruder vom Sockel stoßen könnte. Sie könnte Elizabeth ein Stück weit befreien, fraglich bleibt, ob sie schweigen wird.

 

Der letzte Teil, "Die Tenne", beschreibt einen Traum, eine Vision, eine religiöse Ekstase Johns inmitten seiner Gemeinde. Der Gemeinde, deren Prediger sein Vater Gabriel ist.

Anwesend ist auch Elisha, ein junger Erweckter, den John sehr anziehend findet, als Bruder im Geiste wie als Mann.

John durchschreitet in dieser Erweckung das tiefste Tal der Verzweiflung, er erlebt geistigen Tod und  Verdammung.

 

"Dann stand sein Vater über ihm und blickte herab.

Da wusste John, dass ein Fluch stets erneuert wird, von Augenblick zu Augenblick, von Vater zu Sohn."

 

Er bezeichnet sich selbst als "Sohn des Teufels", er hört das Geräusch der Finsternis, betrachtet die "Heerscharen der Finsternis, eine nach der anderen, und seine Seele flüsterte: Wer ist das? Wer sind sie? Und fragte sich: Wo soll ich hin? Es gab keine Antwort."

 

Dieser letzte Teil des Romans ist nur mit Dantes Höllen-kreisen zu vergleichen.

 

John überlebt, ist er gerettet?

 

Er fühlt sich "heimgekommen und jetzt einer der ihren".

Aber: "John rang um das machtvolle, das lebendige Wort, das die große Kluft zwischen ihm und seinem Vater überwinden würde. Aber es kam nicht, das lebendige Wort; in der Stille starb etwas in John, und etwas erwache zum Leben."

 

In der allerletzten Szene steht John auf der Stufe vor dem Haus der Familie. Er dreht sich um, lächelt den Vater an.

Dieser lächelt nicht zurück.

 

Dies ruft eine kleine Episode in Erinnerung, die sich noch vor dem Angriff auf Roy ereignete. John streift durch den Park, träumt von einem weltlichen Leben. 

"Am Fuß des Hügels ... stieß er beinahe einen alten weißen Mann mit weißem Bart um, der ganz langsam am Stock ging. Beide blieben stehen und sahen einander verdutzt an.

John rang nach Atem, um sich zu entschuldigen, aber der alte Mann lächelte. John lächelte zurück. Es war, als teilten er und der alte Mann ein großes Geheimnis; und der alte Mann ging weiter."

 

Ist dies der Urgrund der Religion?

 

James Baldwin, geboren 1924 in New York, gestorben 1987 in Südfrankreich, teilt manches Erlebnis mit seinem Helden John. Den paranoid-religiösen Stiefvater, das Erweckungs-erlebnis mit vierzehn, das Ringen mit der Religion.

Die Erfahrungen des Schwarzen in einer weißen Gesellschaft.

Baldwin wendet sich als Siebzehnjähriger von der Kirche ab.

Dies führt zum Bruch mit dem Vater.

Baldwin begibt sich auf den schwierigen Weg, seinen Lebens-unterhalt (und nach dem Tod des Vaters den der Familie) mit seinem Schreiben zu bestreiten.

1948 geht er nach Paris, es ist auch eine Flucht vor dem amerikanischen Rassismus, den er nicht mehr ertragen kann. 

1953 gelingt ihm mit dem Roman "Von dieser Welt" der literarische Durchbruch.

In Frankreich verbringt er die meiste Zeit folgenden vierzig Jahre, doch er kehrt regelmäßig in die USA zurück, engagiert sich in der Bürgerrechtsbewegung und tritt entschieden gegen Rassismus und sexuelle  Doppelmoral ein.

 

Was seine Werke aber heute noch so aktuell macht wie zur Zeit ihrer Entstehung: der kunstvolle Aufbau der Romane,

die unverwechselbare Sprache, der tiefe Blick in die Seele seiner Helden, die genaue Zeichnung der Lebensumstände - Baldwins Literatur ist zeitlos. 

 

"Aus der Unordnung, die das Leben ist, jene Ordnung zu schaffen, die Kunst heißt - das ist die Aufgabe jedes Schriftstellers", so Baldwin in einer Notiz.  

Dies führt er in seinem Roman "Von dieser Welt" vor Augen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

James Baldwin: Von dieser Welt

Übersetzt von Miriam Mandelkow

dtv Hardcover, 2018, 320 Seiten

(Originalausgabe 1953)