Jaime Begazo - Die Zeugen

Dieser hochinteressante und sehr gelungene Kurzroman beleuchtet das Verhältnis von Realität und Fiktion, oder, um es mit Goethe zu sagen, von Dichtung und Wahrheit. Außerdem von Denken (Planen) und Tat, von Rache und Gerechtigkeit. Und dies alles anhand einer der berühmtesten Erzählungen von Jorge Luis Borges!

 

Der Universitätsprofessor, Autor u.a. des Vorwortes einer Gesamtausgabe von Borges, Ich-Erzähler und Alter Ego des Schöpfers dieses Romans besucht den berühmten Schriftsteller Borges (1899-1986) kurz vor dessen Tod in Genf. Er hat eine ganz besondere Frage auf dem Herzen:

 

"Wer ist Miton Sills?"

 

Milton Sills ist eine Figur, die im gesamten Werk nur ein einziges Mal erscheint, die "sich überhaupt nicht in das Puzzle einfügen wollte, sie ist wie ein überzähliger, falscher Stein, ihr Vorhandensein mutet sogar etwas widersprüchlich an." 

 

Milton Sills taucht in der Erzählung "Emma Zunz" aus dem Jahr 1948 auf. Diese ist Teil des Bandes "Das Aleph", der sich mit der Unendlichkeit beschäftigt.

 

Die Erzählung spielt 1922 oder 1923 in Buenos Aires.

Emma erhält einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wird, ihr sechs Jahre zuvor nach Brasilien geflohener Vater hätte Selbstmord begangen. Geflohen war er, um dem Gefängnis zu entgehen, das ihm drohte, weil er anscheinend Gelder der Firma unterschlagen hatte, in der er als Kassierer arbeitete. Vor seiner Flucht konnte er jedoch noch Emma die Wahrheit mitteilen: der Dieb war niemand anderes als der Geschäfts-führer Loewenthal selbst, der mit einem geheimen Zweitschlüssel die Kasse leergeräumt hatte.

Nun entsinnt Emma einen ausgeklügelten Plan, wie sie die Gerechtigkeit wieder herstellen kann, ohne diese wie eine Rache wirken zu lassen und straffrei auszugehen.

 

In dem Gespräch, das sich nun zwischen den beiden Herren entwickelt, wird zum einen die Erzählung wiedergegeben, zum anderen erzählt Borges den Hintergrund der Geschichte. Denn diese beruht auf einer wahren Begebenheit - eine Tatsache, die die Gedankenwelt des Ich-Erzählers auf den Kopf stellt.

War bislang Borges für ihn der "Inbegriff der Literatur", "Der höchste Ausdruck literarischer Kreativität", der "Nukleus der Fiktion des 20. Jahrhunderts", scheint plötzlich dieses Gebäude in sich zusammenzufallen, scheint der "Gott" der Fiktion aus dem Himmel auf die Erde zu fallen.

 

"Natürlich hat Milton Sills existiert" sagt Borges und initiiert damit die Reflexionen darüber, wie sehr die Dichtung von der Realität beeinflusst wird.

Er kannte Milton, der in der Erzählung lediglich als ein Porträtfoto vorkommt, das in Emmas Schublade liegt.

In Wirklichkeit war er, zusammen mit Borges selbst, Zeuge der Ausführung von Emmas Plan, Zeuge jener Tat, die den Nukleus der Erzählung bildet.

 

Die Tat, ihre Verwandlung in Fiktion, ihre Verzerrung bei der Wiedergabe, gleichzeitig jedoch die Beibehaltung der Wahrheit - weil die Darstellung im Kern der Wirklichkeit folgt - alles andere wäre "infernalisch", so Borges - diese Poetologie breitet der berühmte Autor vor den erstaunten Augen des Wissenschaftlers aus.

 

"Ich muss Ihnen gestehen, dass ich mich heute noch nostalgisch an das Vergnügen erinnere, das mit diesen Momenten verbunden war. Der Reiz, der vom Ungewissen ausging, die abenteuerlichen Vorstellungen, die Fülle der Möglichkeiten, das Vorstellungsvermögen überhaupt, sich tausend Enden ausdenken zu können, tausend verschiedene Kulminationen, alle gültig, alle real."

 

Diesem Gespräch zu folgen ist ein großes Vergnügen.

Zu wissen, es ist ein Roman, alles ist ausgedacht, der Autor führt vor Augen und zugleich hinters Licht, er spielt mit der Phantasie der LeserInnen, er macht es wie Borges selbst, der mit ihm "Katz und Maus" gespielt hatte.

"Borges hatte es wieder einmal geschafft, ich verspüre eine Mischung aus Scham und Bewunderung", so der Erzähler im letzten Abschnitt des Buches.

 

Was bleibt? Dies aber stiften die Dichter.....

 

 

Mir bleibt noch hinzuzufügen, dass der Roman in einem

neu gegründeten Verlag erschien, der sich vor allem der Literatur Lateinamerikas und Spaniens widmet, aber auch Exkursionen in die arabische oder ukrainische Literatur unternimmt. Der vorliegende Roman erscheint in der Übersetzung des Verlegers, der viele Titel des Verlages übertragen hat - mit großer Passion!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jaime Begazo: Die Zeugen

Aus dem peruanischen Spanisch übersetzt von

Frank Henseleit

Kupido Literaturverlag, 2020, 128 Seiten

(Originalausgabe 2005)