Christophe Boltanski - Das Versteck

"Ich bin nie so frei und glücklich gewesen wie in diesem Haus.

Ich wollte, ich könnte es mit der Genauigkeit eines Insektenkundlers beschreiben, der sich Gang für Gang mit dem Leben eines Ameisenhaufens beschäftigt, dabei ließe ich alles beiseite, was man nicht mit der Lupe sieht: den unglaublichen Lebens-hunger, die Momente der Trunkenheit, ja der Euphorie. ... Das ständige Kommen und Gehen. Freunde, die unangekündigt auftauchen. Die Verachtung gängiger Anstandsregeln. Die bloßen Füße, das Essen mit den Händen. Die Möglichkeit, fast alles zu sagen. Die endlosen Diskussionen. Die Energie, der Überschwang, die von dieser Achtundsechziger-Kommune ausgingen (bevor es den Begriff überhaupt gab). Das Licht trotz der Finsternis."

 

Chistophe Boltanski (geb. 1962) siedelt als Dreizehnjähriger in das Haus der Großeltern um. Es ist jenes Haus, das er in obigem Zitat so hymnisch beschreibt.

Sein Roman ist die Geschichte seiner Familie.

Regentin dieses Hauses in der Rue-de-Grenelle, Paris, ist die Großmutter. Es dauert einige Zeit, bis der Leser ihren Namen erfährt, denn sie ist einfach "sie". Eine Königen, die keinen Namen braucht. Marie-Élise heißt sie, unter dem Pseudonym Annie Lauran veröffentlicht sie Romane. Als Kind kam sie zu einer "Patin", die sie adoptierte. Diese gab ihr den neuen Namen Myriam.

 

Marie-Élise hält ihr Alter streng geheim. Nicht einmal die Familie kennt es. Geburtstage sind ein Tabu, genauso Tischmanieren und andere Konventionen. Elternschlafzimmer und Kinderzimmer? Wozu?

Die Königin schläft in einem Bett, um sie herum in Schlafsäcken auf dem Fußboden ihre Kinder und Enkel.

Anne, Jean-Elie, Luc, Christian, Christophe, Ariane.

"Sie überwachte uns von der Höhe ihres Vorgebirges aus, überprüfte, dass kein Sarkophag beim Appell fehlte."

 

Der Großvater, genannt "er", heißt Etienne, ist Sohn jüdischer Einwanderer aus Odessa. Er ist ein berühmter Arzt, viele Medaillen zieren seine Karriere und doch ist er eher menschenscheu, die Forschung hätte seinem Charakter mehr entsprochen als die Behandlung der Patienten.

 

Das Haus, in dem die Familie lebt, ist ein Kokon. 

Bienenstock oder Ameisenhaufen, wie Boltanski schreibt,

es ist Heimat, Festung, und - für zwanzig Monate - das Versteck des Großvaters.

 

Der Roman orientiert sich in seiner Struktur an den Räumen des Hauses. 

Das erste Kapitel trägt die Überschrift "Auto".  Auch dieses gehört gewissermaßen zum Haus. Es steht im Hof, die Familie (sie fährt stets gemeinsam weg, die Großmutter am Steuer) kann direkt von der Küche aus einsteigen, sich hineinzwängen. Und so ihre Trutzburg verlassen, ohne wahrgenommen zu werden. Sie fährt ihren Mann zur Arbeit, wartet, schreibt, fährt ihn wieder nach Hause.

 

Sie ist gehbehindert. Als junge Frau, Studentin der Medizin, hat sie sich vermutlich im Krankenhaus mit Polio infiziert. Seitdem kann sie sich nur mit Mühe und auf Möbel etc gestützt fortbewegen. Sie weigert sich, technische Hilfsmittel in Anspruch zu nehmen, trägt nicht einmal orthopädische Schuhe. Sie stützt sich auf ihre Kinder.

"Meine Kinder sind meine Stöcke."

 

Die Kinder bleiben alle bis auf Luc in diesem Haus, nur Luc heiratet und wird Vater zweier Kinder, Christophe und Ariane. Das verzeiht seine Mutter ihm nie. Und setzt alles daran, die Enkel zu sich zu locken. Das gelingt ihr auch.

 

Die Familiengeschichte schreibt sich fort, indem Christophe Boltanski das Haus Raum um Raum durchwandert und anhand der Besonderheiten seine Bewohner charakterisiert. Küche, Arbeitszimmer, Salon, Treppe, Wohnräume, Badezimmer, Zwischen-Raum, Schlafzimmer, Speicher.

Über zwei Stockwerke plus Dachboden (er wird das Atelier Christians) erstreckt sich das Reich.

 

Auf den Zwischen-Raum begrenzt sich die Welt Etiennes während fast zwei Jahren. Seine Konversion gilt nichts im nationalsozialistisch besetzten Frankreich, er würde deportiert und interniert werden. Er muss verschwinden. 

 

Großmutter und Großvater lassen sich scheiden. Etienne taucht unter. In Wirklichkeit verlässt er das Haus niemals.

Zwischen Bad und Schlafzimmer befindet sich ein kleiner Raum, in diesen wird im Boden ein Versteck eingelassen,

es ist eher eine Kiste als ein Raum.

Dorthin verschwindet Etienne, sobald sich jemand dem Haus nähert. Auch die jüngeren Kinder wissen nicht Bescheid,

das wäre zu gefährlich.

 

Die Nächte verbringt er bei seiner Frau, kurz nach der Befreiung von Paris kommt Christian zur Welt.

1945 heiraten die beiden ein zweites Mal.

 

"Als er aus seinem Versteck heraus kam, tat er, was man

von ihm erwartete. Er kehrte in die Gesellschaft zurück.

Er begann, wieder sein früheres Leben zu leben, als sei nichts gewesen, ohne Klagen, ohne Rachsucht, ohne von irgendjemandem etwas zu fordern. Er nahm sine Arbeit wieder auf und traf seine Kollegen wieder. ...

Er setzte seine Karriere fort, ...(aber) die Außenwelt erdrückte ihn. Er funktionierte nicht mehr. Er konnte den freien Raum nicht mehr ertragen. ... Er konnte nicht mehr ohne Führer das Haus verlassen ... Er zog geschlossene Räume vor. ... Er lebte in ständiger Angst. Die Außenwelt war für ihn ein Dschungel voller Gefahren."

 

Die Kinder gingen auch nach Kriegsende nicht zur Schule. 

Sie wurden von der Mutter und von Hauslehrern unterrichtet.  Sie "lebten völlig isoliert."

"Leistet Eingeschlossensein der Kreativität Vorschub? Entwickelt sich die Phantasie leichter, sobald sie nicht mit der Wirklichkeit konfrontiert wird?"

 

Diese Frage stellt Christophe im Hinblick auf seinen Onkel Christian, ein auf vielen Feldern arbeitender Künstler.

Jean-Elie ist Professor, Essayist, Universalgelehrter, Christphes Vater Luc ist ein berühmter Linguist.

Christophe selbst ist Kriegsreporter, Journalist und Autor.

 

Das sind sehr erstaunliche Lebensläufe nach einer Kindheit und Jugend, nach einer Zeit im Elternhaus (die für Jean-Elie nicht endete), das so auf sich selbst konzentriert war.

 

Das Haus war zugleich Gefängnis und Ort größter Freiheit.

 

Christophe Boltanski hat die "Familienmythologie" gesponnen, sein Roman ist eher ein Essay, ein Kaleidoskop, zusammengesetzt aus vielen beweglichen Elementen.

Die Geschichte seiner ungewöhnlichen Familie ist zugleich ein Blick in die französische Gesellschaft und Historie.

Da er die einzelnen Personen im Hinblick auf die Räume beschreibt, und nicht chronologisch vorgeht, fügt er eine Facette nach der anderen hinzu. Dies ergibt ein  lebendiges und dynamisches Bild, ein sehr polyvalentes.

Das gilt auch für die Großmutter, die zwar eine Regentin ist, aber keine Diktatorin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Christophe Boltanski: Das Versteck

Übersetzt von Tobias Scheffel

Carl Hanser Verlag, 2017, 320 Seiten

(Originalausgabe 2015)