Iwan Bunin - Verfluchte Tage

Iwan Bunin wird im Oktober 1870 in Woronesh, Zentralrussland, geboren.

Er ist eines von neun Kindern, seine zum Landadel gehörende Familie verarmt kurz nach seiner Geburt.

Das Gymnasium kann er nur vier Jahre lang besuchen, dann unterrichtet ihn sein älterer Bruder. Auf die Universität muss er ganz verzichten, d.h. er muss sich seine Bildung selbst erarbeiten.

 

Der Bruder Juli gehört selbst zu den Verfolgten unter dem alten Regime, schon allein deshalb steht Iwan diesem kritisch gegenüber. Und doch ist er als reaktionär zu bezeichnen, in dem Sinne eines Bewahrers der alten Kultur.

 

Das vorliegende Tagebuch ist kein solches im klassischen Sinne. Die Aufzeichnungen, die Bunin sich während der Revolution macht, dienen ihm als Grundlage, er bearbeitet diese Notizen jedoch mehrfach und es ist als eigenständiges literarisches Werk zu betrachten.  Als solches ist es ein Zeitdokument und eine Reflexion eines Schriftstellers auf seine Rolle in der Gesellschaft.

 

Das Tagebuch setzt ein am 1. Januar (alten Stils), in Moskau, 1918. Die Sowjets hatten den alten Kalender ersetzt durch einen neuen, Bunin nimmt mit seinem Festhalten am alten Kalender bereits Stellung zu den Geschehnissen.

 

Der erste Eintrag: er verlässt seine Wohnung, begegnet einem Herrn, der ganz optimistisch in die Zukunft blickt, gleich darauf einer alten Frau, die ihn weinend bittet: "Gnädiger Herr, laßt mich nicht verhungern!"

Hierauf begibt er sich zu einer Schriftstellerversammlung.

Hier trifft er einen Kollegen, der schon fast wie ein echter Bolschewik spricht, Jahre zuvor pries er die Autokratie.

 

Zwischen diese drei Eckpfeiler ist das literarische Tagebuch gespannt: Hoffnung der einen, tiefe Verzweiflung der anderen, sich-Verbiegen der Intelligenz.

 

Bis April 1919 bleibt Bunin in Moskau, dann geht er nach Odessa. Hier wie dort ist die Zeit geprägt von Warten auf Neuigkeiten und eine fast manische Gier nach Zeitungen und Nachrichten. Doch egal ob mündlich oder schriftlich: nur Gerüchte machen die Runde. Stündlich wird eine andere Sicht auf die Dinge verbreitet, es kaum möglich zu erfahren, wie die Lage ist.

 

Was Bunin mit eigenen Augen sieht, ist eine entfesselte Gewalt. Mag es zu einer Revolution gehören, dass Blut fließt - es ist absolut abstoßend, wie überall hingerichtet, gemordet und geschlachtet wird. 

Die Atemlosigkeit, das Chaos, das überall herrscht, fasst Bunin sprachlich, indem er kurze Szenen aneinanderreiht, anekdotische Betrachtungen, die zusammengenommen ein Bild der Zerstörung ergeben. Er lässt Bauern, Soldaten, Studenten, Arbeiter, Diener, Schriftsteller auftreten, junge und alte Frauen, sie alle entbehren einer Lebensgrundlage. Im physischen wie geistigen Sinn. Die Bolschewisten haben zwar das Alte davongejagt, aber das Neue noch nicht erschaffen. Und Bunin bezweifelt sehr, dass sie das jemals schaffen werden.

 

Nur ein Beispiel: eine Frau Malinowski, Ehefrau eines Architekten, übernimmt die Leitung der Theater-kommission, obwohl sie "ihr Leben lang nichts mit dem Theater zu tun" hatte, nur weil ihr Mann mi Gorki befreundet war. Kann man mit solchen Leuten neue Kultur schaffen?

 

Nicht nur das Theater zerfällt, auch die Literatur.

Die Schriftsteller sind gehalten, eine revolutionäre Literatur zu begründen, doch was kommt dabei heraus? Nichts, was sich mit Tolstoi oder Tschechow messen könnte.

Bunin bricht auch mit Gorki, der sich nach und nach zum Fürsprecher der Bolschewisten macht.

 

Symbolisch für den Niedergang der Kultur sieht Bunin die neue bolschewistische Orthographie:

"Und sollte der Erzengel Michael persönlich es befehlen,

ich werde niemals die die bolschewistische Orthographie übernehmen. Allein deshalb nicht, weil keine Menschenhand jemals etwas Vergleichbares geschrieben hat wie das, was heutzutage nach dieser Orthographie geschrieben wird."

 

Das Volk leidet unter Hunger und Plünderungen, es leidet auch unter den Kommissaren. Meist sehr einfachen Leuten, die nun ein wichtiges Amt haben. 

Und wenn auch der Krieg gegen die Deutschen in diesem Buch nur als Hintergrund vorkommt, darf nicht vergessen werden, dass Russland sich neben der Revolution auch noch im größten Krieg befindet, den es jemals gab.

 

"Haben viele nicht gewußt, daß die Revolution nur ein blutiges Bäumchen-wechsel-dich-Spiel ist, das immer nur darauf hinausläuft, daß das Volk letzen Endes doch vom Regen in die Traufe kommt, selbst wenn es sich eine Zeitlang auf dem Platz der Herren hatte halten und prassen und toben können?"

 

Die Revolution zerstört Leben und sie zerstört die Kultur.

"Es ist widerwärtig! Die ganze Stadt klappert mit Holzsandalen, alle Straßen sind überflutet - die "Bürger" schleppen von morgens bis abends Wasser vom Hafen herbei, weil die Wasserleitung schon lange kaputt ist.

Und alle haben von morgens bis abends nur ein Gesprächs-thema: wie man es anstellen könnte, etwas zu essen zu ergattern. Wissenschaft, Kunst, Technik, jede noch so unbedeutende menschliche Arbeit, jedes schöpferische Leben - alles vernichtet. Die mageren Kühe haben die fetten Kühe des Pharao gefressen und sind nicht nur nicht fett geworden, sondern krepieren selbst!"

 

1920 verlässt Bunin zusammen mit seiner Frau Russland.

Bis zu seinem Tod 1953 lebt er in Frankreich. 

1933 bekommt er als erster russischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur, der Jubel unter den russischen Emigranten ist groß. 

 

Das Buch "Verfluchte Tage" legt Zeugnis davon ab, dass Literatur Zeitzeugnis sein, und zugleich die Zeiten überdauern kann. 

In seiner Genauigkeit und Fülle ist es ein einzigartiges Dokument, sein Stil, seine Tiefe und seine sprachliche Vielfalt machen es zu großer Literatur.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Iwan Bunin: Verfluchte Tage; Ein Revolutionstagebuch

Übersetzt von Dorothea Trottenberg

Dörlemann Verlag, 2017, 264 Seiten

(Der Text erschien erstmals 1935)

 

 

 

 

 

Zu dieser Ausgabe sei noch bemerkt, dass sie dem Leser wertvolle Hinweise, die das Verständnis erleichtern, an die Hand gibt. Unter anderem ein Nachwort von Thomas Grob, ein Personenregister und einen Überblick über Leben und Werk des Dichters.