Stig Dagerman - Deutscher Herbst

Der Titel des 1947 veröffentlichten Buches ist etwas irreführend, verbin-den doch heute viele Menschen mit diesem Begriff den Herbst 1977, mit der RAF, Terror und Rasterfahndung.

Die Essays Stig Dagermans (1923-1954) widmen sich jedoch dem Herbst des Jahres 1946, in dem er im Auftrag der schwedischen Tageszeitung "Expressen" durch Deutschland reiste.

 

Der damals erst dreiundzwanzigjährige Autor war für diese Reise ausgewählt worden, weil er fließend Deutsch sprach, mit einer Deutschen verheiratet war und so die Verwandten seiner Frau besuchen konnte. Damit entfiel die offizielle Zusammenarbeit mit den Alliierten, Stig Dagerman konnte sich frei bewegen und einen ganz persönlichen Blick auf die Situation werfen.

 

Unterwegs machte er sich Notizen, erst nach der Rückkehr entstanden die Zeitungsartikel, noch später, im Mai 1947, erschien die Buchausgabe. Dieser Abstand nimmt den Texten nichts von ihrer Unmittelbarkeit. Dagerman benötigte die Zeit der Reflexion, um all das Leid, das er gesehen hatte, zu verarbeiten, und einen Weg zwischen Empathie und Analyse, sowie zwischen Kollektiv und Individuum zu finden.

Entstanden ist ein Werk von hoher literarischer Qualität,

die es über rein journalistische Arbeiten hinaushebt.

 

Der erste Essay ist eine allgemeine Betrachtung des zerstörten Landes, das von Flüchtlingen, die alles andere als willkommen sind, sowie von hartnäckigem Regen über-schwemmt wird. Dagerman denkt über den Begriff der "Barmherzigkeit" nach, auch darüber, warum viele Menschen die Frage, ob es unter Hitler besser war, mit "Ja" beantworten. 

Für ihn ist dies kein Indiz, dass das nationalsozialistische Denken weiterhin in diesen Menschen lebendig ist, er schaut genauer hin:

"Man fragte Kellerdeutsche, ob es ihnen unter Hitler besser gegangen sei, und diese Deutschen antworteten: ja. Man fragt einen ertrinkenden Mann, ob es ihm besser gegangen sei, als er noch auf dem Kai stand, und der Ertrinkende antwortet: ja. Man fragt jemanden, der bei zwei Scheiben Brot am Tag hungert, ob es ihm besser gegangen sei, als er bei fünf Scheiben hungerte, und erhält zweifellos die gleiche Antwort."

Er schließt daraus, dass jede "Analyse der ideologischen Verfassung ... gründlich falsch liegt, wenn sie nicht zugleich in der Lage ist, ein möglichst unauslöschliches Bild von der Lebenswelt und Lebensweise zu vermitteln..." 

 

Dieses Bild vermittelt er in all seinen Texten, angereichert mit philosophischen Betrachtungen zu Schuld, Gerechtig-keit, "Fressen und Moral", Demut, dem anderen Blick von außen. Er beleuchtet die Politik der Alliierten in ihren ganz direkten Auswirkungen für die Menschen, er besucht Wahlveranstaltungen und Entnazifizierungsprozesse in den Spruchkammern. 

 

Der Besuch bei einem in einer gut erhaltenen Villa lebenden Anwalt gibt Stig Dagerman Anlass, über die zynische These der neuen Klassenlosigkeit in Deutschland nachzudenken.

"Die bürgerlichen Ideologen verwechseln Armut mit Klassenlosigkeit, wenn sie behaupten, nahezu alle Deutschen befänden sich in der gleichen wirtschaftlichen Notlage. ...

Es gibt einen Unterschied zwischen den weniger Armen und den Ärmsten der Armen, der größer ist als der Unterschied zwischen Wohlhabenden und Besitzlosen in einer halbwegs normal funktionierenden Gesellschaft."

 

In der Berliner U-Bahn lernt er eine polnische Lehrerin kennen, die nun von "Geschäften" lebt. Sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause, dort begegnet er auch ihrem Kompagnon, einem ehemaligen Soldaten, der für seine monatliche Unter-stützung genau sieben Zigaretten kaufen kann. Sonst nichts. Ohne moralisches Überlegenheitsgebaren beschreibt Stig Dagerman diese Begegnung und was er daraus folgert.

 

Die Beispiele könnten fortgesetzt werden, doch schon aus diesen beiden geht hervor, wie Dagerman arbeitet.

Ausgehend von Begegnungen mit Menschen in Kellern, Trümmern, Zügen, Gerichtssälen, Städten und Dörfern, fragt er nach, wie es zu dieser Situation kam, was sie für den Einzelnen bedeutet und verknüpft dies mit übergeordneten Fragestellungen. Er blickt auf ein Land, von dem noch in keiner Weise klar ist, wohin es sich entwickeln wird, noch ist die wirtschaftliche Situation zu unsicher, als dass sich die demokratische Idee durchsetzen und verfestigen kann.

 

In seinem letzten Essay setzt Dagerman "Literatur und Leiden" in Beziehung zueinander. Ein nachdenklicher Text, der verschiedene Denkansätze aufzeigt, ohne `den wahren´ zu bestimmen.

Er zeigt noch einmal einen Schriftsteller bei dem Versuch, dem Individuum gerecht zu werden.

 

Ergänzt wird das Buch durch ausgewählte private Briefe Dagermans an verschiedene Personen, vor allem an seine Frau. Diese zeigen unter anderem, dass die beschriebenen Begegnungen keine Erfindungen sind. 

Ein erhellendes Nachwort Paul Berfs, dem wieder eine feine Übersetzung gelungen ist, rundet den Band ab. 

 

Abschließend bleibt mir noch verwundert festzustellen, wie reif die Texte des jungen Schriftstellers sind. Er schreibt stilsicher in verschiedenen Tonlagen, er zeichnet Orte und Situationen gekonnt, er ist bei aller Empathie nicht unkritisch und er hält die Waage zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Stig Dagerman: Deutscher Herbst

Aus dem Schwedischen übersetzt von Paul Berf

Guggolz Verlag, 2021, 190 Seiten

(Originalausgabe 1947)