Volker Demuth - Niederungen und Erhebungen

Besichtigung einer Lebenslandschaft

Der Dorfbauernhof, Randlage Kleinstadt, Das Haus am Fluss - diese drei Wohnstätten sind die Lebensorte Demuths. Sie sind Titel und Struktur des Buches, in dem er in einer Art Selbsterkundung seinen Fragen nachspürt: Was mache ich hier?

Warum bin ich zurück gekommen?

Wie wurde ich zu dem, der ich bin?

Wie viel von meinen Vorfahren steckt mir in den Knochen, ist mir in Fleisch und Blut übergegangen? Wie eigen ist meine Sprache, mein Denken und Sein? Welchen Anteil daran hat die Landschaft, in der ich aufgewachsen bin und nun wieder lebe?

Was ist überhaupt Landschaft? Wie verhält sich der Raum

in Bezug auf die Zeit? Was ist Zeitlosigkeit?

 

Die Reihe ließe sich fortsetzen, denn Demuth arbeitet sich sehr tief in die Geschichte hinein. In jene des Landes, der Gebäude, der Familie. Er zeiht Verbindungslinien zwischen Geschehnissen oder Dingen und ihren Spuren in der Sprache. Er vermisst die Landschaft mit den Augen, Ohren, mit den Händen, der Haut, mit der größtmöglichen Wahr-nehmungsschärfe. 

 

Das Buch ist weder Autobiographie, noch Historie oder philosophische Abhandlung, es ist von all dem etwas und darüber hinaus ist es ein sehr anregender Text, der einlädt, der Wanderung zu folgen und all die Fragen, die der Autor sich stellt, auch sich selbst zu stellen.

 

"Der Großvaterbauernhof" steht in der kleinen Gemeinde Baltringen bei Ulm. Der Urgroßvater hat ihn 1890 gekauft, und damit den Schritt aus einer Familie von Tagelöhnern oder Knechten zum Grundbesitzer gemacht. 

Durch diesen Hof mit Wohnteil, Stall, Bühne (schwäbisch für Dachboden) streift das Kind, wenn er die Großeltern besucht. 

Der Hof war Ort der ersten Treffen aufständischer Bauern im frühen 16. Jahrhundert gewesen, von hier aus zogen sie ins Land mit ihren Forderungen, die in den "Zwölf Artikeln" ihren Ausdruck fanden. 

Martin Luther wird ebenso angesprochen wie Thomas Müntzer - so zieht Demuth eine Linie über mehrere

Jahrhunderte.

 

Er erzählt vom Großvater, der im Ersten Weltkrieg kämpfte, von ältesten Bruder des Vaters, der nicht aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrte. Dabei thematisiert er die Kaiserzeit, die Kriege und die Zeit dazwischen, den Faschismus und all die Spuren, die die Geschichte in der Landschaft hinterließ.

Seien das nun Bahngleise, Flugplätze oder eine Baracken-siedlung. In dieser waren zuerst Juden, später Flüchtlinge aus dem Osten untergebracht.

 

Nicht nur in der Landschaft bleiben die Spuren bis heute erhalten: Luthers Verhindern einer sozialen Protest-bewegung, sein Beharren darauf, dass der "Leib ... im Besitz der Herren verbleibt ... zerstörten die Hoffnung, am Schreibtisch und auf dem Acker wären Gleichgesinnte am humanen Werk. Die Landschaft - im sechzehnten Jahrhundert zieht das Wort `landtschaft´ die Gegend und die darin Lebenden ineins zusammen - hat das nie ganz zu vergessen vermocht. Und ich kann sagen, noch heute ist ein Schriftsteller und Intellektueller hier einer, der Misstrauen hervorruft, und die Gegend in diesem Sinne trostlos."

 

Während in diesem ersten Teil die Herkunft, die Geschichte und Mentalität im weitesten Sinne thematisiert werden (bis in die im Schwäbischen übliche Frage an ein Kind: "Wem gehörst du?"), erzählt der Autor im zweiten Teil, "Randlage Kleinstadt", direkter von sich selbst.

Die Grundlage der Faszination für das Alte war im Groß-vaterbauernhof gelegt worden, Demuth benutzt dafür das schöne Wort "Erinnerungsstaub", seine Eltern möchten den Hof jedoch nicht übernehmen, sie ziehen an den Rand einer nahe gelegenen Kleinstadt.

 

Der Vater ist ein sehr harter Mann, der häufig und kräftig zuschlägt. Es gibt keine gemeinsame Sprache, aus wenig wird nichts, es kommt die Zeit, da sprechen die beiden nicht mehr  miteinander. Zur Zeit der Musterung entdeckt Demuth die Literatur. Georg Büchner, J.R.M. Lenz - diese Namen stehen für den Kampf gegen die Obrigkeit, aber auch für Scheitern.

 

Sie formen "das erste Menschenbild ..., das ich für mich besitzen sollte." Die Lektüre verstärkt die Suche nach einer eigenen Sprache - unter diese Überschrift lässt sich dieser zweite Teil des Buches stellen. 

"Wie also bin ich zum Schreiben gekommen? Möglicher-weise, weil ich nie vergessen konnte, wo ich herkam."

 

Und so kommt er auch nach Jahren des Reisens zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind zurück in diese Gegend, die ihn nicht loszulassen scheint.

Sie kaufen ein altes Haus mit Garten direkt an der Donau.

"War es womöglich das: meine Lebenslandschaft? ...

Hier lebe ich. ... Aber selbst jetzt, nach so vielen Jahren, wollte sich ein eigenartiges Gefühl nicht vollständig verlieren." Es wird nie zur Selbstverständlichkeit werden, hier zu leben.  Es ist und bleibt ein Annähern: an Orte und Räume, an die Veränderungen, an die Zeit.

 

Bemerkenswerter Weise fällt das Wort `Heimat´ genau ein Mal in diesem Buch, und das sehr vorsichtig, mit einem Fragezeichen versehen: "Und hielt die Sprache nicht eben dafür den Begriff Heimat bereit?"

Das Wort trägt vielleicht zu viel grausame  Vergangenheit

in sich, finstere Zeiten haben sich in die DNA des Wortes eingeschrieben. 

 

Aus dem Nachdenken über Orte, Räume und das Fließen  entwickelt sich dieser Teil des Buches (Das Haus am Fluss)

in Richtung eines Nachdenkens über die "Zeit", auch die "überzeitliche Zeit". 

 

"Heute weiß ich, wir leben in Strömungen - der Zeit, des Lebens, der Texte, der Dinge. ... Im Innersten glaube ich, trotz meiner bleibenden Skepsis, dass die Natur ein sehr viel tieferes Verständnis von sich besitzt, als Menschen zu denken jemals in der Lage sein werden. Allerdings zeigt sich die heutige Menschheit willens, dieses Verständnis für immer zu erschüttern. Das verwandelt den Garten, es macht ihn zu einem Ort, an dem die mythische Vertreibung von Menschen, die das Paradies erlebten, nicht vergessen werden kann. Und manchmal, in eigenartigen Momenten, berührt mich im Garten die Ahnung jener anderen, überzeitlichen Zeit von Wachsen und Vergehen, taumelnden Sommern und totenstarren Wintern, von sonderbaren Tagen, tief in Nebel versunken oder von Insekten und Schwerelosigkeit surrend. Eine Zeit, die etwas aufhebt, wie ein überaltertes Gesetz, wie etwas Vergessenes. Ohne viel Aufhebens. Ohne etwas zur Schau zu stellen." 

 

Aus der Gegenwart, die Landschaft in Profitzonen verwandelt hat, schlägt Demuth noch einmal einen großen Bogen zurück in die Zeit vor vierzigtausend Jahren.

Mit den ersten Kunstwerken, gefunden in einer Höhle auf der Schwäbischen Alb, nicht weit vom Wohnort des Autors entfernt, trat die Symbolik in die Welt.

 

"Hier aber hatte es begonnen, das bis zum heutigen Tag die Menschheit in Atem haltende Experiment, einen Raum symbolischer Beweglichkeit zu entwerfen, der das Andere des vorgegebenen vorstellbar machte: die Möglichkeiten, die das Universum bot. Die vormals geschlossene Welt wurde zusehends offener. Mit einem Jetzt, das nicht länger ein Immer und Ewig bedeutete, begann im Gefühl des Lebens etwas Gestalt anzunehmen, das sich zu einer Vorstellung von Zukunft bereitfinden konnte. Und darin gab es etwas Erstaunliches, das sich durch Kunst als neue Realität des Menschen abzuzeichnen begann: Freiheit. Eine Freiheit,

von der mir in der Kindheit auf dem Großvaterbauernhof erzählt wurde."

 

Mit großer Sprachachtsamkeit schreibt Volker Demuth über die `Niederungen und Erhebungen´ der Landschaft und des Lebens. Sprache und Denken, Sprache und Sein, das körper-liche Sein in der Welt als Ort - dieser kann nicht gedacht werden ohne die Zeit - Demuth durchschreitet einen großen Kreis mit seinem Text oder Sprachbild, es ist beeindruckend unprätentiös, konzentriert und fließend.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Volker Demuth: Niederungen und Erhebungen - 

Besichtigung einer Lebenslandschaft

Matthes & Seitz Verlag, 2019, 320 Seiten